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Berlin: Reinhold Scholze: Geb. 1927

Er war ein politischer Mensch, bis zuletzt. Wenige Wochen vor seinem Tod schickt der 73-jährige Reinhold Scholze seiner Gewerkschaftskollegin Sigrid Gärtner einen Umschlag mit 14 maschinenbeschriebenen Seiten.

Er war ein politischer Mensch, bis zuletzt. Wenige Wochen vor seinem Tod schickt der 73-jährige Reinhold Scholze seiner Gewerkschaftskollegin Sigrid Gärtner einen Umschlag mit 14 maschinenbeschriebenen Seiten. "Nach neuen Alternativen suchen!" betitelt er sein Vermächtnis an die Kollegen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). "Besonders will ich zeigen", schreibt Scholze, "wie ich und wodurch ich zu wichtigen neuen Erkenntnissen in der Zeit von 1989 bis 2000 gelangt bin".

Der Mauerfall stürzte den Marxisten und Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften in eine politische und persönliche Krise. Die DDR war sein Leben. Er hatte sie als Antifaschist und Funktionsträger mitgestaltet. Dennoch war er wegen seines "eher humanistischen Marxismus", wie sein Gewerkschaftskollege Ernst Pilz sagt, immer wieder mit der offiziellen Linie der Partei in Konflikt gekommen. "Er war ein Idealist und Menschenfreund", sagt Pilz.

Reinhold Scholze zog sich nach 1989 nicht in die Rechthaberei zurück. Er wollte begreifen, was passiert war. Vor allem wollte er die Menschen und deren Positionen auf der anderen Seite der Mauer kennen lernen. 1990 gründete er den Bürgerverein Berolina und trat mit dem Projekt "Erfahrungen älterer Menschen in Wendezeiten" an die Öffentlichkeit. Zwei Jahre später stand er im Theater Ost-Schwung mit sechs weiteren Senioren auf der Bühne. Persönliche Erfahrungen und Erlebnisse aus der Vergangenheit und aus den ersten Jahren nach der Wende verdichtete er gemeinsam mit dem Schriftsteller Günter Görlich zu einem Theaterstück. "Klassenziele" wurde ein Erfolg. Über 70 Aufführungen veranstaltete die Gruppe, viele davon in westdeutschen Städten. Der Versuch zu zeigen, dass die eigene Biographie mehr ist als rückblickende Nostalgie oder Verleugnung führte zu heftigen Diskussionen nach den Aufführungen. "Ein echter Gewinn für Spieler und Besucher", schreibt Scholze in seinen Memoiren.

Weitere Stücke, auch mit Gymnasiasten zusammen, folgten. "Weil es wichtig ist, Vergangenheit nicht zu einem Privileg der Alten zu machen." Offene Gespräche zu führen, zu diskutieren ohne dem anderen die Würde und das Daseinsrecht abzusprechen, das war sein Hauptanliegen in seinem letzten Lebensjahrzehnt. Reinhold Scholze gehörte im Seniorenausschuss der GEW Berlin/Brandenburg zu den Aktiven, war bei jeder Aktion der Gruppe dabei. Sein Anspruch sei es gewesen, sagt Sigrid Gärtner, zwischen Ost und West zu vermitteln. Besonders beeindruckt hat sie Reinhold Scholzes vorwärtsgewandtes Denken. Kein Hauch von unterschwelliger Aggression gegen den Westen sei bei ihm zu spüren gewesen. Und das, obwohl er wegen seiner Funktion bei der Akademie der Wissenschaften eine Minderung seiner Bezüge hinnehmen musste. Beklagt habe er sich nie. "Vielleicht war es gerade deshalb so angenehm, mit ihm zu diskutieren", sagt Sigrid Gärtner. Neben dem Theater waren die Auseinandersetzungen mit dem Christentum für Reinhold Scholze eine Erfahrung, die ihn faszinierte. Dies habe seinen Gesichtskreis sehr erweitert, schreibt er in seinen Erinnerungen und fährt fort: "Tragisch, dass sich beide humanistischen Würdetraditionen gegenseitig beschädigt haben."

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