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Jüdisches Leben in Berlin ist vielseitig. In der Thoraschule – wie auf diesem Bild – lernen junge Gläubige alles über ihre Religion. Sie wie auch säkulare Juden stellen die Praxis der Beschneidung nicht infrage.

© Kai-Uwe Heinrich

Religionsgemeinschaften: Juden und Muslime starten Onlinepetition gegen Beschneidungsurteil

Junge Muslime und Juden sehen die Beschneidung als elementaren Bestandteil ihrer Religion. Das Kölner Urteil empfinden sie als Bevormundung und manche Diskussion darüber als arrogant und kurzsichtig.

Sie sind zwischen 20 und 40 Jahre alt, sie sind jüdisch und kommen aus aller Welt nach Berlin, um frei leben zu können – frei von staatlichen Repressionen und frei von religiöser Bevormundung. Eines aber scheint für viele festzustehen, egal, ob sie religiös sind oder säkular, aus Israel, den USA oder Russland stammen oder hier aufgewachsen sind: Beschneidung muss sein.

„Die Beschneidung war und ist ein zentrales Element unserer Religion und ein Bund zu Gott, welcher schon seit tausenden von Jahren reibungslos geschlossen wurde“, heißt es in der Onlinepetition „Wir gegen Rechtsbeschneidung“, die drei junge Juden und Muslime ins Internet gestellt haben. Adressat ist die Bundesregierung. „Kommt es wirklich so weit, dass jüdische/muslimische Eltern und Kinder aus unserem freien und demokratischen Land ausreisen müssen, um ihre Religion frei praktizieren zu können?“, fragen die Petitionisten. Rund 300 Menschen haben sich ihnen bisher angeschlossen. Das Kölner Landgericht hatte im Juni die religiös motivierte Zirkumzision, die Entfernung der Vorhaut am männlichen Penis‚ als strafbare Körperverletzung gewertet.

Video: Beschneidung als religiöse Identität

Die meisten Juden, die heute in Berlins Synagogen beten, stammen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Dort war die Beschneidung nicht verboten, aber wer es machte, musste mit Problemen rechnen, sagt Eleonora Shakhnikova, Leiterin des Integrationsbüros der Jüdischen Gemeinde. Wenn überhaupt, hätten jüdische Familien das Ritual heimlich vollzogen. Manche Familien hätten es später in Deutschland nachgeholt. Manchmal seien Großvater, Vater und Enkel an einem Tag beschnitten worden. Viele Angehörige der jungen Generation haben in Deutschland ihren Glauben neu entdeckt. Für sie gehört die Beschneidung fest zum jüdischen Selbstverständnis. „So steht es in der Thora, daran wird nicht gerüttelt“, sagt Shakhnikova. Das Kölner Urteil empfinden viele „als Ohrfeige“: Sie kommen hierher, um endlich frei zu leben – und dann das.

Sergey Lagodinsky, Mitte 30, Mitglied im Gemeindeparlament, Jurist und Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung, steht nicht im Verdacht, allzu fromm zu sein. Er sei „säkularer Jude“, sagt er. Trotzdem findet er die „Arroganz und Kurzsichtigkeit“ vieler Kommentatoren, auch in seiner eigenen Partei, den Grünen, „unerträglich“. Er hat den Eindruck, dass es in der Debatte vor allem darum gehe, „dass die Mehrheit der Minderheit etwas diktieren will“.

Der Strafrechtler Holm Putzke von der Universität Passau hat jüngst im Tagesspiegel erklärt, es gebe längst auch innerhalb des Judentums eine Debatte über die Beschneidung. „Reine Fantasie“, sagt Lagodinsky. Es werde zwar behauptet, dass einige Juden in England den körperlichen Eingriff durch eine symbolische Handlung ersetzen würden, aber weder in Deutschland noch in den USA oder in Israel werde die Zulässigkeit der Beschneidung unter Juden ernsthaft infrage gestellt.

„Im Judentum gibt es natürlich alles, ich will nicht ausschließen, dass es irgendwo solche Gruppen gibt“, sagt Rabbiner Walter Rothschild von der Union der Progressiven Juden, der viele Jahre in England gelebt hat. „Aber normativen Einfluss haben sie nicht.“

„Sie werden keinen finden, der nicht fordern würde, dass die Beschneidung weiterhin erlaubt sein muss – auch wenn er selbst seinen Sohn vielleicht gar nicht beschneiden lassen würde“, sagt Sergey Lagodinsky.

Äußerung eines jüdischen Mannes gegen die Beschneidung

Zumindest einen gibt es aber doch. „Die Kontinuität des Judentums soll um Himmels willen erhalten bleiben, aber eben auf humanerer Basis“, schreibt ein junger Mann, Jurist, „Sohn jüdischer Eltern“, auf Facebook. Er warte auf eine „tragfähige“ Begründung, „warum Eltern ihre Religion auf dem Rücken eines Dritten (des Kindes) ausleben dürfen, der eine Entscheidung noch gar nicht treffen kann“. Religiöse, medizinische, juristische Argumente lässt er nicht gelten und plädiert für die Verschiebung des Rituals auf einen späteren Zeitpunkt im Leben.

Die Mehrheit der jüdischen Facebook-Diskutanten ist fassungslos. Einige reagieren ihr Unverständnis über das Kölner Urteil mit Ironie und Sarkasmus ab. „Wir haben Mediziner, Juristen, Psychologen im Judentum, und ich bin auch nicht blöd“, sagt Partyveranstalter Vernen Liebermann, „soll ich mir jetzt von einem deutschen Jura-Professor erklären lassen, dass der Eingriff, der eine Sekunde dauert, archaisch ist?“ Er schlägt vor: Als Nächstes könne man ja jüdischen Eltern bitteschön verbieten, ihre Kinder am jüdischen Feiertag Jom Kippur fasten zu lassen. Könnte doch auch Traumatisierungen hervorrufen.

„Ist schon befremdlich, dass man jetzt als Menschenrechtsverletzer abgestempelt wird und sich für etwas rechtfertigen muss, was für Juden selbst gar kein Problem ist“, sagt der 31-jährige Jonathan. Er wurde religiös erzogen in einer Familie, die seit Generationen in Berlin verwurzelt ist. Er engagiert sich für das „Limmud-Festival“, zu dem junge orthodoxe, konservative, liberale und progressive Juden zusammenkommen. Um Beschneidung sei es höchstens mal am Rande gegangen. „Aber es ist nicht so, dass wir Juden noch nie darüber nachgedacht hätten“, sagt Jonathan. In der Geschichte des Judentums sei die Zirkumzision immer wieder kritisiert worden, meistens von außen, manchmal von innen. Bislang habe sich die Meinung durchgesetzt, dass das Ritual konstitutiv für die religiöse Identität und ein Gebot ist, das beibehalten werden muss. Wenn sich das ändern sollte, dann müsste die Diskussion aus dem Judentum kommen.

Ohne feste Riten, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, hätte das Judentum als Minderheit wohl kaum bis heute überlebt, gibt der junge Mann zu bedenken. Vielleicht ist deshalb das Bewusstsein auch bei jungen jüdischen Menschen für Traditionen und Gebote schärfer als bei der christlichen Mehrheit, die es sich sozusagen immer schon eher leisten konnte, etwa den Gottesdienst zu schwänzen.

Was ihn besonders trifft, sagt Jonathan, ist, dass jüdischen Eltern die Liebesfähigkeit abgesprochen wird. Von wegen: Wer sein Kind liebt, der schneidet ihm nichts ab. Man dürfe Juden ruhig glauben, dass sie ihre Kinder lieben. Und anders als das Klischee besagt, sei der jüdische Gott kein strafender. Wenn ein Säugling zu schwach ist oder medizinische Gründe gegen die Beschneidung sprechen, verschiebe man den Eingriff oder ersetze ihn durch eine symbolische Handlung. Eine Ausnahmeregelung sei aber etwas anderes, als von vornherein darauf zu verzichten, sagt Jonathan. „Es ist entscheidend, warum man etwas macht. Bequemlichkeit oder weil es der Zeitgeist verlangt, das reicht nicht aus, um ein religiöses Gebot zu verändern.“

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