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Rigo B

© Thilo Rückeis

Rigo B.: "Das werde ich nie vergessen"

Nach sieben Monaten Untersuchungshaft ist Rigo B. wieder zu Hause. Er hofft jetzt auf einen Freispruch.

Erschöpft, aber glücklich wirkt der Junge aus Zehlendorf mit den wuscheligen Haaren. In Jeans und Trainingsjacke sitzt er am Frühstückstisch. Auch nach knapp einer Woche kann er immer noch nicht ganz fassen, dass er wieder zu Hause ist. Die Belastungen der letzten Wochen sind ihm anzusehen. „Gestern bin ich aufgewacht und wusste erst nicht, wo ich bin“, sagt er. Mehr als sieben Monate saß der Waldorfschüler in Untersuchungshaft. Besuch gab es nur alle 14 Tage für eine halbe Stunde. Sein Antrag auf eine Telefonerlaubnis wurde mehrfach abgelehnt. Seinen 17. Geburtstag feierte er alleine in einer acht Quadratmeter großen Einzelzelle. „Diesen Tag werde ich nie vergessen“, sagt Rigo B. mit leiser Stimme.

Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft wiegt schwer: Er soll gemeinsam mit dem 20-jährigen Waldorfschüler Yunus K. während der diesjährigen Ausschreitungen am 1. Mai in Kreuzberg einen Brandsatz auf Polizisten geschleudert haben. Die beiden wurden wegen versuchten Mordes angeklagt. Das hat es in der 22-jährigen Geschichte der 1. Mai-Krawalle noch nie gegeben. „Wir waren vom ersten Moment an von seiner Unschuld überzeugt“, sagt Rigos Mutter.

Die beiden Schüler haben die Vorwürfe vehement bestritten. Als Schaulustige seien sie nach Kreuzberg gekommen. Von dem Molotowcocktailwurf hätten sie nichts bemerkt. Erst im Gefängnis in Moabit wurde Rigo klar, was ihm vorgeworfen wird. „Du kriegst zehn Jahre wegen Mordes“, habe ein Polizist ihm gesagt. „Anfangs dachte ich, die Sache ist bald geklärt und ich bin in wenigen Stunden wieder frei.“ Doch dann kam alles anders.

Während seiner Zeit im Gefängnis Kieferngrund versuchte Rigo B., sich so gut wie möglich abzulenken. „Jede Woche kam ein Paket mit Büchern für mich“, sagt er. Mehr als 40 Romane und Dutzende Schulbücher habe er im Gefängnis gelesen. Anfangs durfte er nur zwei Stunden pro Tag seine Zelle verlassen. Hinzu kamen 45 Minuten für Sport. Später durfte er an einigen Tagen im Garten und in der Küche arbeiten. Fünf Euro für sechs Stunden gab es dafür. „Besonders schlimm war es im Sommer, als es zu Ausschreitungen im Gefängnis kam“, sagt der 17-Jährige. Im Juni hatten Dutzende Jugendliche in der Anstalt randaliert, weil sie bei der Hitze länger als üblich in ihren Zellen bleiben mussten. Unterstützung bekam Rigo B. auch vom Gefängnispfarrer und einem Sozialarbeiter. „Die haben sofort erkannt, dass es sich bei Rigo nicht um die übliche Klientel handelt“, sagt sein Vater Axel.

Von einer „folgenschweren Verwechslung“ sprechen die Anwälte von Yunus K. und Rigo B. Tatsächlich mehrten sich im Laufe des im September begonnenen Prozesses die Zweifel an der Schuld der Angeklagten. Mitschüler, Lehrer und Verwandte setzten alles in Bewegung, um den beiden zu helfen. Ihre Lehrer kamen für Schulprüfungen ins Gefängnis. Yunus K. legte sein Abitur ab, Rigo B. seinen Mittleren Schulabschluss. Freunde druckten Plakate und Flugblätter, organisierten Infoveranstaltungen und schrieben an ihre inhaftierten Klassenkameraden. Auf dem Küchentisch steht ein großer Pappkarton mit Hunderten Briefen und Postkarten. „An manchen Tagen hat Rigo 20 Briefe auf einmal bekommen“, erzählt sein kleiner Bruder Janko stolz. „Die meisten sind von Mama.“

Eigentlich hatte niemand damit gerechnet, dass Rigo B. dieses Jahr noch freikommen würde. „Wir hatten schon fest geplant, alle zusammen Weihnachten vor dem Gefängnis zu feiern, damit unser Sohn weiß, dass wir in seiner Nähe sind“, sagt seine Mutter. Als am 11. Prozesstag der Antrag auf Haftverschonung abgelehnt wurde, kochten die Emotionen im Gerichtssaal hoch. Yunus K. und Rigo B. brachen in Tränen aus, die vielen Unterstützer auf den Zuschauerbänken protestierten lautstark gegen den „Skandalprozess“. Die Richterin musste die Sitzung für eine Viertelstunde unterbrechen.

Umso überraschter waren die Angeklagten, als sie vergangene Woche plötzlich entlassen wurden. „Ich habe nur noch die beiden Worte ,Haftbefehl aufgehoben’ gehört“, erzählt Rigos Vater. „An alles, was danach kam, kann ich mich nicht mehr erinnern.“ Als die Richterin auch noch bekannt gab, dass kein dringender Tatverdacht mehr bestehe, konnte die Familie es kaum glauben. „Zuvor war die Situation so hoffnungslos und schmerzhaft, das kann man sich gar nicht vorstellen“, sagt Axel B. Die Familie hofft jetzt, dass es Ende Januar einen klaren Freispruch für Rigo B. geben wird. Sollte er freigesprochen werden, stehen ihm 25 Euro Haftentschädigung abzüglich einer Essenspauschale pro Tag zu.

Fünf Prozesstage stehen noch an. Trotzdem will Rigo B. nach den Winterferien sofort wieder zur Schule gehen, um in sein normales Leben zurückzufinden.Vorher muss er sich aber noch um etwas ganz anderes kümmern: „Ich hatte noch gar keine Zeit, Weihnachtsgeschenke zu kaufen“, sagt er und lacht.

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