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Roman-Ausschnitt über die Brunnenstraße: Erst kommt ein Hund und dann John Travolta

Roman-Ausschnitt über die Brunnenstraße: Aus dem Bestseller „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ von Moritz Rinke, erschienen 2010 bei Kiepenheuer & Witsch.

(...) Paul führte eine kleine Galerie in der Brunnenstraße. Sie bestand aus einem etwas dunkleren Raum, in dem vor Kurzem noch ein Waschsalon gewesen war. Der Boden hatte durch die jahrelangen Schleuderprogramme an manchen Stellen Vertiefungen bekommen und es roch noch leicht nach alter, muffiger Wäsche, obwohl Paul immer neue Sorten von Räucherstäbchen einsetzte: Harze, Balsame, Hölzer, Wurzeln, Blüten, zuletzt brannten in seiner Galerie ganze Kräuterbündel aus dem Urwald. Links von der Galerie war Brillen-Meyer, rechts Ginas Hundestudio und gegenüber der kroatische Schrotthändler Kovac. Brillen, Hunde und Schrottautos wirkten auf den ersten Blick nicht wie das ideale Umfeld, dennoch glaubte Paul an seine Galerie. Er war überzeugt, dass der Standort mit der Zeit immer zentraler werden und sich das Zentrum vom Osten her auf ihn zubewegen würde.

In dem Showroom konnte er ungefähr fünf Bilder großzügig hängen, ein sechstes, wenn er noch die Fläche hinter seinem Worpsweder Heinrich-Vogeler-Tisch nutzte, der sicherlich wertvoller als alle Bilder zusammen war. Manchmal legte er seine Yogamatte in den Raum, machte ein paar Übungen (Schulterstand, die Krähe sowie den fliegenden Hund). Er schlief auch dort, wenn Christina ewig lange in ihrem Biologie-Institut forschte. Er wachte dann morgens in der Galerie auf, räumte die Yogamatte beiseite, holte sich bei der Bäckerei ein Brötchen und machte Kaffee mit der Maschine »Primera Macchiato Touch Next Generation«, ein Geschenk seiner Mutter für den Neustart. Pünktlich um zehn Uhr öffnete Paul, er hätte auch um halb elf öffnen können, um zwanzig vor oder gar nicht, es machte keinen Unterschied, weil sowieso niemand kam. Oft dachte er schon beim Brötchen, dass er Punkt zehn öffnen und sich mit dem Essen beeilen müsste. Wenn die Disziplin stimmte, kam auch irgendwann der Erfolg, davon war er überzeugt.

Die Brunnenstraße war wirklich eine gute Straße, nur wurde sie durch die Bernauer Straße in zwei verschiedene Welten geteilt, in den besseren Osten und in den schlechteren Westen. Im Prinzip vertauschte hier die Welt, wie sie einmal war, komplett die Rollen. In der unteren, der »östlichen« Brunnenstraße gab es Hot-Spot-Cafés, Feinkostläden, Galerien, bei denen angeblich Limousinen mit russischen und chinesischen Händlern und Sammlern vorfuhren. Paul überlegte: Die Entfernung von der östlichen Brunnenstraße bis zu seiner Galerie in der westlichen Brunnenstraße betrug nur 250 Meter, er müsste einfach an den richtigen Stellen ein paar Hinweise lancieren, dass die Straße nach Westen noch weiterginge. Die Händler kamen aus Peking, Schanghai, Dubai, Moskau, Bombay, New York oder Miami Beach, da würden sie die restlichen Meter ja wohl auch noch zurücklegen können.

»Die östliche Brunnenstraße ist Mitte, aber die westliche Brunnenstraße Wedding. Das ist vielleicht das falsche Territorium?«, hatte Christina gesagt, als sie vor wenigen Tagen in die Galerie gekommen war, um ihn doch noch davon zu überzeugen, mit nach Barcelona zu gehen.

»Du tust ja so, als sei das hier Nordkorea! Zur östlichen Brunnenstraße sind es nur ein paar Meter. Ich weiß, dass der Wedding kommt! Neukölln und Pankow sind auch gekommen, da kommt der Wedding auch, das ist doch logisch, vor allem, wenn Mitte nur eine Minute entfernt ist«, erklärte Paul, man müsse sich an so eine Straße nur dranhängen, der Rest komme von alleine.

Ein nasser Hund lief in die Galerie, danach eine Mitarbeiterin aus Ginas Hundestudio mit einem riesigen Fön in der Hand. »So was machen wir doch nicht, du Süßer!«, sagte sie, »Frauchen wird mir was husten, wenn ich dich so patschnass abgebe!« Sie drängte ihn in eine Ecke, dann flüchtete der hysterische Hund aus der Galerie, die Frau vom Salon folgte.

»Scheißköter«, sagte Paul.

»Ich war noch nie in Neukölln. Wann soll das denn gekommen sein?«, fragte Christina.

»Da kannst du jeden Immobilienmakler fragen. Die Gegend hat in letzter Zeit angezogen in den Preisen, das wird hier auch passieren. Und wenn sich das Zentrum auf uns zubewegt, dann werden hier auch keine Hunde mehr gefönt. Stell dir vor, in der Brunnenstraße macht jetzt Tarantinos Bar auf, die Tarantino sogar selbst besuchen will, da hängen Original-Kill-Bill-Schwerter.«

»Okay, vielleicht ist es ja doch der richtige Ort. Erst kommt ein Hund und dann John Travolta«, sagte Christina und fuhr anschließend in ihr Institut, um sich von ihrem Professor zu verabschieden. Insgesamt saß Paul schon seit ein paar Monaten in der westlichen Brunnenstraße und wartete auf den kommenden Wedding und den globalen Kunstmarkt, aber das Einzige, was in seiner Galerie ankam, waren die Pakete seiner Mutter. Es waren große, leichte Pakete, seine Mutter schickte ständig Pakete aus Lanzarote, wo sie lebte.

»Danke für die Post, aber ich glaube, der Salat ist vielleicht doch frischer, wenn ich ihn hier kaufe«, erklärte ihr Paul am Telefon, nachdem er aus dem Café in seine Galerie zurückgegangen war. »Nein, der, den ich dir schicke, ist ein ganz besonderer. So einen habt ihr gar nicht in eurer vitaminlosen Großstadt«, entgegnete sie. »Vitaminlose Großstadt« war bei ihr schon ein feststehender Begriff, er bedeutete: In Berlin kann man nicht überleben, wie kann man nur freiwillig in so eine Stadt ziehen? Diese Stadt ist unorganisch, ohne richtige Nährstoffe, eine Mangelstadt, komm lieber zurück zu mir auf die Insel.

»Das ist ein ganz normaler Kopfsalat, den haben wir auch, den kriegt man in jedem Supermarkt«, sagte Paul, er hatte es schon oft gesagt.

»Als ich neulich in der vitaminlosen Stadt war, habe ich nur Schnittsalat in euren Supermärkten gesehen, ganz kraft- und energielose einzelne Blätter lagen da herum«, behauptete seine Mutter, die allerdings zuletzt in Berlin gewesen war, als es die Mauer noch gegeben hatte.

Vielleicht sah damals der Salat wirklich nicht gut aus, dachte Paul, weil er aus Westdeutschland geliefert und erst noch durch die DDR transportiert werden musste.

»Es kann schon sein«, räumte er ein, »dass es hier damals keine richtigen Salatfelder gab für Westberlin, aber das hat sich geändert seit der Wende. Ganz Brandenburg ist voll mit guten Ackerböden. Auf jeden Fall leben wir nicht mehr zu Zeiten der Luftbrücke! Damals war es nötig, dass die Westalliierten Berlin versorgten, aber doch jetzt nicht mehr.« Weil jedoch seine Mutter auf die historischen Ausführungen nicht einging, versuchte er noch einmal auf den Punkt zu kommen: »Darum geht’s auch gar nicht. Ein Paket aus Lanzarote braucht mehr als eine Woche. Glaub mir, der Salat, der hier ankommt, sieht ganz anders aus, als der, den du losgeschickt hast. Und manchmal wird er auch noch übers Wochenende postgelagert.«

Es gab Samstage, da musste Paul gegen das Verfaulen seiner Muttersalate in der Postlagerung richtig anrennen, um noch vor Schließung das Amt zu erreichen.

»Die geben immer Kärtchen ab und ich laufe dann durch den halben Bezirk, die Post ist übrigens viel weiter weg als der Supermarkt! Da gibt es absurde Schlangen, stundenlang füllen Omis irgendwelche Formulare aus und je länger ich in der Schlange stehe, umso mehr Angst bekomme ich, deine Pakete zu öffnen.«

Er hatte ihr bereits mehrmals erläutert, dass es durchaus sein könne, dass der Salat, den sie auf Lanzarote kaufte, vom spanischen Festland komme und dass es doch irre sei, einen Salat um die halbe Welt zu schicken. Schon die Vorstellung, dass seine Mutter mit ihrem Corsa über die Insel raste, nur um den Salat noch schnell auf das Postamt in Playa Blanca zu bringen, beunruhigte Paul, denn seine Mutter kümmerte sich nicht viel um Regeln, Vorfahrten oder Fahrbahnmarkierungen in Kurven oder beim Abbiegen, was sie völlig ohne Ironie mit den gesellschaftlichen Infragestellungen seit der Revolution von 1968 begründete; seitdem fahre sie nun mal so, es sei eben so drin. Am gefährlichsten waren die ständigen Lanzarote-Verkehrskreisel; sie behinderten die schnellen Salatfahrten seiner Mutter, sodass sie ohne anzuhalten und mit allem Urvertrauen, das sie in ihre Unsterblichkeit zu haben schien, in die Kreisel hineinraste. (...)

Beim Händler mit den verlorenen Ostzeiten

Paul hielt an einem Blumengeschäft, das ihm bisher nie aufgefallen war, und überlegte, Blumen zu schicken statt SMS, Blumen für Christinas Schreibtisch, das wäre ein kräftigeres Zeichen als diese zwischen allen anderen Dingen dahingetippten SMS.

Drinnen saß ein älterer Mann und schlief. Er war auf dem Stuhl heruntergerutscht und auf seinem Schoß lag eine Tüte mit Frischhaltepulver. »Hallo?«, sagte Paul vorsichtig.

Der Mann schreckte hoch, rückte seine Brille zurecht, sah auf die Uhr und redete wie ein Wasserfall. Das sei ihm noch nie passiert in fünfunddreißig Jahren Brunnenstraße; zu Ostzeiten nicht, als er nur Kunstblumen verkauft habe, und zu Westzeiten auch nicht, in denen alles schlechter geworden sei, obwohl er doch jetzt richtige Blumen habe. Trotzdem sei früher alles besser gewesen, als es noch eine Mauer gab und dahinter Kunstblumen, er wolle gar keine richtigen Blumen, Kunstblumen mit einer schützenden Mauer davor wären ihm lieber!

»Entschuldigung, haben Sie Fleurop?«, unterbrach ihn Paul, als sein Handy klingelte, seine Mutter. Er wollte es einfach klingeln lassen, schon allein die Vorstellung überforderte ihn, dass sie ihn jetzt wieder fragen könnte, ob der frische Salatkopf in Berlin eingetroffen sei. Und wenn es etwas Dringendes war? Er dachte eigentlich jedes Mal, dass es etwas Dringendes sein könnte, wenn sie anrief. Er ließ es meist fünfmal klingeln, während er beim zweiten Klingeln entschied, nicht ranzugehen, beim dritten unsicher wurde, beim vierten sich vorstellte, wie sie in einen der gefährlichen Lanzarote-Kreisel hineingerast war und einem Lkw die Vorfahrt genommen hatte und sich jetzt aus dem Krankenwagen ein letztes Mal zu ihrem Sohn durchstellen ließ. Beim fünften Klingeln nahm er ab.

»Alles in Ordnung?«, fragte er direkt.

»Paul, das Haus!«, rief sie, sie klang wirklich in Not. »Ich habe vorhin den Stand der Gipsmarken durchbekommen, das Haus sinkt immer mehr!«

»Fleurop? Fleurop?!«, sprach der Blumenhändler dazwischen. »Immer musste kiek’n, wat die and’ren anbieten und wat deen’ ihre Blumen kosten statt dit alle Blumen kosten, wat se kosten und Ruhe is’!«

»Ich kann jetzt gerade nicht«, entschuldigte sich Paul.

»Nimm den Zug nach Bremen. Fahr in unser Dorf und setz dich dort mit Brüning in Verbindung.« Die Stimme seiner Mutter zitterte. »Es ist auch dein Haus und das deines Großvaters. Wir haben immer überlegt, ob wir etwas Großes daraus machen können, weißt du noch?«

Sein Großvater hatte das Haus in Worpswede 1937 erworben und nach und nach umbauen, das Fachwerk erneuern und das Dach mit Reet decken lassen. Das einzige Problem war, dass das Haus im Teufelsmoor stand. Und dass es Jahr für Jahr um ein paar Zentimeter mehr darin versank. Paul hatte immer gedacht, dass er eines Tages das große Haus mit dem Grundstück verkaufen könnte, wenn er in Berlin scheitern sollte und Geld brauchen würde, was ja relativ wahrscheinlich war, doch dafür durfte das Haus, sein Erbe, nicht im Teufelsmoor versinken.

»Wat krumm jeloof’n?«, fragte der Blumenhändler mit den verlorenen Ostzeiten.

»Da, wo ich herkomme, versinken die Häuser«, sagte Paul und überlegte, ob er eine Tasche oder einen Koffer packen sollte für die Heimat und wie lange er dort wohl bleiben würde. »Wat denn, wie kann eenem denn dit Haus versink’n?«, fragte der Blumenhändler.

»Wenn es keinen Halt mehr hat«, antwortete Paul.

Moritz Rinkes Roman ist hier erhältlich.

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