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Berlin: Rosemarie Liersch (Geb. 1923)

Für Frau Schaller nur das Lied von der roten Sonne bei Capri.

Krankenhaus Neukölln, fünf Uhr. Das Frühstück für 31 Patienten muss vorbereitet werden. 31 Teller. Ein halbes Brötchen mit Kirschmarmelade für Frau Schaller. Ein Käsebrot für Herrn Dreyer. Einen Apfel nur für Frau Becker. Oberschwester Rosemarie kennt jede Vorliebe. Sie stellt die Teller auf Tabletts, klopft an die Türen, betritt die Zimmer, singend, mit ihrer klaren Stimme. Jetzt fängt das schöne Frühjahr an, und alles fängt zu blühen an auf grüner Heid’ und überall.

Die Menschen auf Oberschwester Rosemaries Station sind alt und dement, wissen nicht mehr, ob es am Tag zuvor geregnet hat, oder ob die Sonne schien, wer das Gesicht auf dem Foto neben ihrem Bett ist, wer sie selbst sind. Doch sie erinnern sich an die Lieder, die sie selbst einmal gesungen haben.

Rosemarie nimmt sich Zeit, für alle, für alles. Sie kämmt den Patienten die Haare, schneidet ihre Nägel, kauft ihnen neue Kleider, bäckt Kuchen, putzt. In drei Schichten. Sie weiß, Frau Schaller lässt sich nur waschen, wenn sie ihr das Lied von der roten Sonne bei Capri singt. Sie setzt sich in den Gemeinschaftssaal, um Frau Becker beim Klavierspielen zuzuhören. Zu Weihnachten steigt sie in den Keller, holt die Sterne und Kerzen und Pyramiden herauf. Sie schmückt den Baum. Zieht allen ein frisches Hemd an, ordnet die Frisuren. Sie deckt eine lange Tafel, auf jedem Platz ein bunter Teller, Nüsse, Apfelsinen, Schokolade. Sie bittet den Pfarrer herein, zusammen singen sie Stille Nacht, heilige Nacht.

Die Station von Oberschwester Rosemarie ist ein Zuhause für die alten Menschen, bis zum Tod. Heute gibt es die Station in dieser Art nicht mehr. Zu wenig Personal, zu hohe Kosten. Nach einigen Tagen, vielleicht Wochen, bringt man die Patienten in Pflegeheime.

Klagen über die anstrengende Arbeit, Beschwerden, niemals wäre Rosemarie auf die Idee gekommen. Mit einem Häubchen auf dem Kopf läuft sie den Flur auf und ab, verteilt die Aufgaben unter den Schwestern, schreibt Dienstpläne, Krankenakten, ist manchmal heimlich da, in ihrer freien Zeit, Notfälle, sagt sie, gehen vor.

Der Bundespräsident verleiht ihr das Bundesverdienstkreuz. Kaum jemand weiß davon. Unschicklich, eitel findet sie zu viel Anerkennung. Anerkennung für etwas, das ihr selbstverständlich ist, immer schon selbstverständlich war. Krankenschwester wollte sie werden, so lange sie zurück denken kann. Bisweilen erzählt sie von damals, 1944, 1945, das Krankenhaus zerbombt, Operationen ohne Medikamente im Keller, die verletzten Soldaten, Jungen, 17, 18 Jahre, die Angst, die Kälte. Fortwährend hat sie gefroren, auch später friert sie schnell, schläft sommers wie winters mit einer Daunendecke und einer Bettjacke. Vermisst ihren Mann, der umgekommen ist in diesem Krieg. Sorgt für den kleinen Sohn, Peter, für ihre Mutter. Und sie klagt natürlich nie, Hilfe, nein, die braucht sie nicht, schafft alles allein, will doch niemandem zur Last fallen. Die kleine Familie, die Kollegen im Krankenhaus, die Freunde, es ist ein gutes Leben. Sie lacht viel und singt. Bringt die Menschen um sich zum Lachen und Singen. Peter heiratet, zieht nach Schweden. Ja, denkt Rosemarie, Schweden ist weit, aber dafür kann ich jedes Jahr eine Reise machen, in den langen warmen Sommern mit meinen Enkelkindern spielen.

1985 hört Rosemarie auf zu arbeiten.

Irgendwann kann sie nicht mehr laufen. Eine Freundin fragt: „Was ist los?“ – „Ach“, antwortet sie, „mir tun die Beine weh. Doch das ist jetzt unwichtig. Sag mir lieber, wie es dir geht.“

Am 13. Mai 2008 stirbt Rosemarie. Sie wird anonym beerdigt, weil sie es sich so gewünscht hat. Sie will doch niemandem zur Last fallen. Tatjana Wulfert

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