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© Keystone

Rückblick: Rütli: Ein Schock mit Folgen

Erst Pisa, dann Rütli:  Wie zwei Stichworte die Selbstzufriedenheit und Ignoranz in Berlin erschütterten – und die Schule verändert haben.

4. Dezember 2001: Ein Schock durchzuckte das deutsche Bildungswesen. Die ersten Ergebnisse der Pisa-Studie der OECD wurden offiziell vorgestellt, und sie bestätigten das nahezu Undenkbare auf wissenschaftlicher Grundlage: Das deutsche Schulbildungswesen ist international bestenfalls Mittelmaß. Die Welt startete ins Pisa-Jahrzehnt, und Berlin kam dabei besonders schlecht weg. Und als die ersten Reformversuche eingeleitet waren und die hiesigen Verantwortlichen auf Wirkung hofften, folgte 2006 der nächste Schreck: Lehrer der Rütli-Hauptschule in Neukölln schrieben einen Hilferuf an die Schulverwaltung und beklagten, ihnen wachse die Gewalttätigkeit ihrer Schüler über den Kopf; die Gesamtkonferenz der Schule forderte die Auflösung der Hauptschule als perspektivisch einziges Gegenmittel. Der Brief blieb, typisch Berlin, ein paar Wochen im Eingangskorb liegen. Doch als er dann bei der Presse landete, wirkte er umso brisanter. Rütli erwies sich als Erdbeben: Es brachte das Gebäude von Selbstzufriedenheit und Ignoranz zum Einsturz, das durch Pisa schon merklich angeschlagen war.

Pisa und Rütli – eine zweifache Erschütterung, die die Bildungspolitiker aus ihrem Schönheitsschlaf geweckt und bis heute eine Reihe von Veränderungen ausgelöst hat. Die bislang größte, die Abschaffung der Hauptschule, steht in den kommenden Jahren an. Berlin stand zunächst weltweit am Pranger, als Musterbeispiel für das Versagen der Bildungs- und Migrationspolitik in einem reichen Industrieland. Die direkte gedankliche Verbindung nach ganz unten war leicht nachzuvollziehen: Deutschland gerade mal Pisa-Mittelmaß, Berlin nicht einmal Mittelmaß in Deutschland, und in Berlin ganz unten Neukölln, jener Bezirk, an dessen Schulen offenbar Gewalt und Terror herrschten. Die Verantwortlichen entfalteten sofort hektische Aktivitäten; die leichteste Aufgabe bestand noch darin, die Rütli-Schule selbst zu befrieden. Das gelang rasch mit neuem Schulleiter, viel Geld und der Zusammenlegung mit der Realschule nebenan, woraus ein flott auf Mini-Uni gestyltes „Campus Rütli“ erwuchs.

Doch die eigentliche Agenda war nicht so leicht abzuarbeiten, denn es zeigte sich, dass viele Berliner Hauptschulen längst zu Restschulen verkommen waren, und dass dieser faktisch aufgegebene Rest der Schüler zum großen Teil aus Migrantenkindern bestand, die die deutsche Sprache nicht beherrschten. Damit richtete sich der Fokus auf die Versäumnisse von Kita, Vor- und Grundschule. Rasch wurden die Kindergärten zu Bildungseinrichtungen erklärt, schon Vierjährige müssen sich einem Sprachtest unterziehen, und der ewig aufgeschobene Umbau der Grundschulen zu Ganztagsschulen mit Betreuung bis 18 Uhr stieß plötzlich nicht mehr auf Widerstand. Die vom rot-roten Senat für 2010 angekündigte Abschaffung der Hauptschule wird die nächste Folge des Rütli-Schocks sein. In all dem Reformeifer blieb der indiskutable Bauzustand der Berliner Schulen zunächst weitgehend unberücksichtigt, weil die Kassenwarte hart blieben. Dass plötzlich nun auch fürs Bauen Geld da ist, dürfte eher eine Folge des Konjunkturcrashs und des darauf aufbauenden Wachstumsbeschleunigungsprogramms der Bundesregierung sein. Doch vermutlich haben Pisa und Rütli zumindest die Erkenntnis beschleunigt, dass menschenwürdige Toiletten nicht völlig unwichtig sind, wenn es darum geht, Bildung attraktiv zu machen.

Pisa betraf ganz Deutschland, seine Wirkung setzte langsamer ein, und sie wird länger anhalten. Die erste Studie 2001 brachte Deutschland neben peinlichen Vergleichen mit erfolgreichen Flächenländern wie Finnland und Kanada vor allem eine Erkenntnis: Das deutsche System der Dreigliedrigkeit ist zu undurchlässig und benachteiligt vor allem Migranten- und Unterschichtkinder. Dies zumindest war die Interpretation des für die Studie verantwortlichen OECD-Koordinators Andreas Schleicher, der als bedingungsloser Verfechter eines einheitlichen Gesamtschulsystems gilt. Dieses System ist bei den Pisa-Spitzenreitern etabliert, dummerweise aber auch in Ländern, die zu den Testverlierern gehörten. Auch das ein Jahr später nachgereichte Ergebnis der nationalen Detailuntersuchungen stärkte gerade die Verteidiger des dreigliedrigen Systems. Denn es zeigte sich ein deutliches Süd-Nord-Gefälle; die konservativ regierten Länder mit starken Gymnasien wie Bayern und Baden-Württemberg schnitten besser ab.

Vor allem CDU-Kultusminister kritisierten deshalb, Schleicher maße sich die Rolle eines Supervisors an und gebe vor, wie die Daten zu interpretieren seien; die Drohung, aus dem ganzen Testverfahren auszusteigen, stand im Raum. Vom „letzten Aufbäumen der Gymnasiallobby“ sprach hingegen die GEW– falls das richtig ist, bäumt sich die Lobby allerdings bis heute unvermindert. Schleicher, streitlustig und undiplomatisch, trug selbst wenig dazu bei, die Wogen zu glätten; es kam der Eindruck auf, es würden im Schatten der Fachdiskussion alte Rechnungen beglichen. Pisa hat insofern nicht nur Antworten gegeben, sondern vermutlich zu viele Antworten, aus denen sich jeder je nach bildungspolitischer Orientierung das Passende heraussuchen kann. Überdies hat der erste Pisa-Test eine Lawine von ähnlichen Untersuchungen ausgelöst, deren Nutzen mehr als umstritten ist. Auf Grundschulebene hat sich längst „Iglu“ angeschlossen, und viele Lehrer stöhnen über viel Bürokratie, die sie von ihrer eigentlichen Arbeit abhält.

In den Berliner Schulen etwa wird längst darüber debattiert, ob es Sinn hat, sich an der für 2010 vorgesehenen Sprachstandserhebung zu beteiligen. Denn deren am mittleren bundesdeutschen Niveau orientiertes Instrumentarium geht an Schulen mit extremem Ausländeranteil völlig ins Leere und bringt, so befürchten viele Lehrer, lediglich das absehbare katastrophale Ergebnis. Die bildungspolitische Brisanz liegt auch hier wieder auf der Hand, denn der Streit, ob die Misere mit curricularer Feinjustierung zu beheben sei oder doch eher grobe Maßnahmen à la Sarrazin erfordert, wird so sicher auf die Schulen zukommen wie das Klingeln der Glocke morgens um acht.

Dennoch hat das Pisa- und Rütli-Jahrzehnt zumindest eine eminent wichtige Veränderung gebracht, die sich nicht wieder zurückdrehen lässt, egal, welche Lobby es versuchen mag: Die hübsche Biedermeier-Idylle mit dem sich selbst genügenden, von niemandem kontrollierten Schulmeister, der es im Einklang mit Gott und dem Lehrplan richten wird, hat ausgedient. Auch die einzelne Schule kann Schlendrian und Unfähigkeit von Lehrern und Leitung nicht mehr so leicht hinter einem bequemen Verhau von vermeintlich subjektiven Faktoren verstecken. Als Reaktion auf Pisa wurden bundesweite Bildungsstandards formuliert, die Länder gründeten das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen. Und die Finanzminister mussten umlernen, was die Priorität ihrer Ausgaben angeht.

Bildungsqualität und Schulleistung sind mess- und vergleichbar geworden, und darin liegt ein Fortschritt an sich, der das Niveau in Deutschland zwangsläufig verbessern wird – auch wenn sich die Gesamtschulfans und die Gymnasialfreunde vermutlich auch nach einem weiteren Pisa-Jahrzehnt unverändert in den Haaren liegen werden.

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