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Berlin: Schicksals Schläge

Ein Mann fällt um, er ist halbseitig gelähmt und kämpft in der Reha-Klinik darum, wieder alleine leben zu können Ein anderer hat Glück: Man operiert ihn an der Halsschlagader, und er muss vorerst keinen weiteren Schlaganfall fürchten

Der Tag, an dem Herrn Tornows Mitte verrutschte, liegt zwei Monate zurück.

Herr Tornow lief durch seine Wohnung, er wollte etwas aus dem Wohnzimmer holen. Zumindest glaubt er das heute, so genau erinnert er sich nicht mehr, er hat seit jenem Tag manchmal Schwierigkeiten, sich zu erinnern. Er kam nicht bis ins Wohnzimmer, im Flur fiel er um. Ihm war schwindlig geworden. Kurze Zeit später brachte ihn die Feuerwehr ins Krankenhaus, und als er dort ankam, war die linke Hälfte seines Körpers taub.

Krankenhaus. Intensivstation. Herr Tornow hatte einen Schlaganfall, Durchblutungsstörung, rechte Hirnhälfte.

Inzwischen versucht Herr Tornow, 86 Jahre alt, schlohweiße Haare, buschige Augenbrauen, hager und ausgestattet mit trockenem Humor, ins Leben zurückzukehren. Man könnte auch sagen, wenn er Glück hat, wird er in den kommenden Wochen und Monaten einige Dinge wieder lernen, die ihm die längste Zeit seines Lebens so selbstverständlich erschienen, dass er nie über sie nachgedacht hat. Laufen, Zähneputzen, sich waschen zum Beispiel.

Durch solch eine halbseitige Lähmung verlieren die Patienten ihre Körpermitte, sagen Ärzte. Das Gleichgewicht beider Körperhälften sei dahin, die Körperachsen verrutschten. Die gelähmte Hälfte hänge an den Betroffenen, schwer und nutzlos wie ein Kartoffelsack. Der Körper vergisst Bewegungsabläufe, und das Hirn verliert Informationen.

Ein Schlaganfall ist in Deutschland die dritthäufigste Todesursache, nach Herz-Krankheiten und Krebs. Jeder vierte Schlaganfallpatient stirbt, sofort oder binnen eines Jahres. Und von jenen, die einen Anfall überleben, hat mindestens jeder Zweite noch nach einem Jahr mit Einschränkungen zu kämpfen; viele bleiben dauerhaft geschädigt. Es gibt zwar kein Register, in dem zuverlässig erfasst ist, wie viele Menschen in Berlin Schlaganfälle erleiden. Doch Experten gehen von bis zu 10 000 Fällen jährlich aus.

Bei manchen Patienten ist nicht daran zu denken, dass sie jemals wieder alleine gehen oder sprechen können. Oben, unten, rechts, links, das alles hat für sie jegliche Bedeutung verloren. Druck, Temperatur, Schmerz, sie empfinden es nicht.

Doch es gibt auch Fälle, die glimpflich ausgehen. Manfred König, 67 Jahre alt, einst Fernmeldemonteur, hat eine tiefe, raue Stimme und ein robustes Naturell. Die einzige sichtbare Spur seiner jüngsten Krankengeschichte ist eine langsam verblassende Narbe am Hals. Aber man merkt, dass er weiß, welch großes Glück er hatte. Vielleicht, weil er eine Spur zu gelassen davon erzählt.

Er war auf der Post, als ihn schwindelte und sein rechter Arm plötzlich taub an seiner Seite hing. „Zu wenig getrunken, dachte ich, bestimmt ist dein Blut zu dick. Geht gleich wieder.“ Das dachte zunächst auch die Hausärztin. Sie müssen mehr trinken, sagte sie zu ihm.

Irgendwann war der Arm plötzlich wieder taub. Schwindelgefühle. Dieses Mal wurde er zum Radiologen geschickt. Eine Untersuchung, bei der die Blutströmung mit Hilfe von Ultraschall gemessen wird. Diagnose: linke Halsschlagader zu 80 Prozent eingeengt durch Kalkablagerungen.

Kalk oder ein Blutgerinsel an den Wänden dieser Ader können sich lösen und ins Gehirn gespült werden, wo sie ein feines Gefäß verstopfen. Das umliegende Gewebe wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt. Wichtige Teile des Gehirns versagen. Je länger dieser Zustand anhält, desto schwerwiegender sind die Schäden. Einer von acht Hirninfarkten – so wird der Schlaganfall auch genannt – entsteht so.

Er, Manfred König, habe zwei kleine Schlaganfälle erlitten, sagte der Arzt, im Fachjargon: ischämische Attacken. Eine Operation sei dringend nötig.

Das Risiko, innerhalb von drei Monaten nach solchen Vorboten vom Schlag getroffen zu werden, ist hoch: Es liegt bei zwanzig Prozent. Wenige Tage nach dem Termin beim Radiologen wurde König in den St. Hedwig-Kliniken in Berlin-Mitte operiert. Der Chirurg hat ihm die linke Halsschlagader ausgeschält, in der Fachsprache heißt die Halsschlagader Arteria carotis oder: Karotis.

Ein halbes Jahr liegt Königs Operation zurück. Ein paar Tage blieb er im Krankenhaus, längst lebt er ohne Einschränkungen. Alle paar Monate geht er zur Nachuntersuchung. „So eine Karotis-Rekonstruktion ist kein sonderlich komplizierter Eingriff“, sagt Jochen Schulze Buschoff, der Facharzt für Gefäßchirurgie im St. Hedwig Krankenhaus.

Es gibt unterschiedliche Methoden, wie ein Arzt das anstellen kann: die Halsschlagader ausschälen. Er kann sie der Länge nach aufschneiden und dann die Ablagerungen an der verengten Stelle auskratzen. Oder er schneidet die Ader einmal ganz durch und krempelt sie, wie einen Hemdsärmel, so lange auf, bis er zu der verengten Stelle gelangt. Dann schabt er Ablagerungen heraus. In jedem Fall klemmt der Arzt die Ader oben und unten ab, bevor er sie öffnet. Nach dem eigentlichen Eingriff ist es manchmal sinnvoll, die Karotis nicht einfach zu vernähen, sondern einen Flicken aus Teflon oder Nylon darauf zu nähen – um die Ader etwas zu erweitern. „Denn auch die Operationsnähte können bewirken, dass das Blut schlechter fließt“, sagt Schulze Buschoff. „Im ungünstigsten Fall würden man den Zustand des Patienten verschlimmern.“

Zu den Risiken dieser Operation gehört auch, dass ein Patient während des Eingriffs einen neuerlichen Schlaganfall erleidet. Nach den Kriterien der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung (BQS) ist es ein noch vertretbares Risiko, wenn die Wahrscheinlichkeit bei sechs oder sieben Prozent liegt, dass die Operation bis 30 Tage nach dem Eingriff zu einem Schlaganfall oder zum Tod führt. Ohne Operation sei das Risiko höher.

Dass der Eingriff selbst einen Schlaganfall verursachen kann, liegt daran, dass sich beim Ausschälen einer Verkalkung kleine Teilchen lösen und zum Gehirn wandern. Die Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft warnt deshalb vor vorbeugenden Karotis-Operationen, wenn die Verengungen unter 70 Prozent liegen und noch keine Symptome verursacht haben. Stattdessen sollten Betroffene blutverdünnende und blutfettsenkende Medikamente nehmen. Ein Leben lang.

Ist die Schlagader so verstopft, dass Medikamente nicht helfen, kann ein Arzt von der Leiste aus über die Hauptschlagader einen so genannten Stent setzen: ein kleines Röhrchen, das in die Ader platziert wird und deren Verschluss verhindern soll. Vorteil dieser recht jungen Methode ist, dass der Patient nicht narkotisiert werden und ihm der Hals nicht aufgeschnitten werden muss.

Ob dieses Verfahren besser ist als das Ausschaben, ist wissenschaftlich umstritten. Eine groß angelegte internationale und vor wenigen Tagen erst veröffentlichte Studie besagt, dass das Komplikationsrisiko in den ersten 30 Tagen nach der Behandlung mit Stents etwas höher ist.

König kannte die Risiken seiner Operation. Angst, sagt er, hatte er keine, er fühlte sich von den Ärzten gut aufgeklärt. Inzwischen weiß er auch, dass die meisten Patienten bei einem Schlaganfall keine Schmerzen haben.

Die hatte auch Herr Tornow nicht. Seit er zur Rehabilitation in eine Spezialklinik kam, hat sich sein Zustand etwas gebessert. Es gab Momente, in denen er glaubte, er sei dabei, den verloren geglaubten Teil seines Körpers wiederzufinden. Gemessen daran, wie einfach das Leben vor dem Schlaganfall und ohne Rollstuhl war, ist es nichts. Andererseits, er könnte tot sein.

Ein Schlag, wie aus dem Nichts. Und von einem auf den anderen Tag ändert sich ein Leben, oft mit entsprechenden psychischen Folgen: Angst, Frust, oft verlieren Betroffene den Lebensmut. Herr Tornow versucht, es zu nehmen wie es ist. Was soll er auch tun? Wie die Sache für ihn ausgehen wird, ist noch nicht abzusehen. Er liebte Spaziergänge am Wasser oder in den Bergen. Jetzt ist an Laufen nicht zu denken. Er braucht einen Rollstuhl, das linke Bein klappte ein wie ein berstendes Streichholz, würde er versuchen zu stehen. Er schafft es ja nicht mal mehr alleine in den Rollstuhl. Alleine essen oder trinken? Geht nicht. Mit seiner Mitte ist ihm auch das Gefühl dafür abhanden gekommen, wie weit ein Gegenstand entfernt ist: seine Hand, ein Glas, eine Gabel; er greift oft daneben.

Trotzdem glaubt er daran, dass er wieder alleine zu Hause leben kann. Schließlich geben ihm die Ärzte und Therapeuten, die ihn im Evangelischen Geriatriezentrum in Berlin-Wedding betreuen, das Gefühl, dass auch sie es tun. Herr Tornow habe eine gute Prognose, sagt Elisabeth Steinhagen-Thiessen, die Leiterin. Das liegt auch daran, dass er nach dem Anfall noch telefonieren konnte, Nummer 112, und dass er in weniger als drei Stunden im Krankenhaus war.

Die ersten Stunden sind entscheidend. Je schneller ein Patient Hilfe bekommt, desto besser sind seine Chancen (siehe dazu Text über Stroke Units auf Seite 13).

Mögliche Ursachen für einen Schlaganfall gibt es viele. Die meisten lassen sich mit einem Begriff umschreiben: ungesundes Leben. Rauchen, Bewegungsarmut, Übergewicht, Blutzucker. Auch hoher Blutdruck. Und dann gibt es noch einen Grund, der nicht beeinflussbar ist: das Alter. Je höher es ist, desto größer die Gefahr eines Anfalls. Manchmal trifft es jemanden, der erst zwanzig ist, aber das ist die Ausnahme. Herr Tornow hat nicht geraucht, nicht getrunken, er ist nicht übergewichtig. Aber die Gefäße sind nicht mehr so toll.

Jetzt versucht er also, ins Leben zurückzukehren. Aber das ist mühsam. Vier Sitzungen bei der Ergotherapeutin hat Herr Tornow an diesem Tag: Radfahren an einer speziellen Maschine, so dass er den Rollstuhl nicht verlassen muss, Bewegungsübungen, solche Dinge. Das ist auch für jemanden, der sich noch nicht aufgegeben hat, ein straffes Programm. Die Physiotherapeutin sagt, gerade für die gelähmte Seite müsse man Reize setzen. Es gibt etliche neuere Studien , in denen man Ähnliches nachlesen kann: Hohe Trainingsintensität sei wichtig, um den Körper zu fordern. Es bleibt auch nicht viel Zeit. Drei bis fünf Wochen sind Schlaganfall-Patienten in der Reha-Klinik.

Die deutlichsten Verbesserungen „erzielt man innerhalb des ersten Jahres“, sagt Elisabeth Steinhagen-Thiessen. Manchmal aber helfe die Reha nur, die ersten Fortschritte nicht wieder zu verlieren.

Marc Neller

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