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Berlin: Schleusung auf vietnamesisch

Im Kofferraum ins Gelobte Land: Verbrecherbanden holen Menschen aus Südostasien nach Europa. Menschlichkeit spielt dabei keine Rolle

Der jüngste Erfolg kam kurz vor Ende 2005. Das LKA 222, eine Dienststelle des Landeskriminalamts, die gemeinsam mit Beamten der Bundespolizei eine der vielen „Spielarten“ organisierter Kriminalität (OK) bearbeitet, hatte eine Organisation seit August auf dem Schirm und schlug am 15. Dezember zu. In einer konzertierten Aktion wurden 16 Personen festgenommen: Deutsche, Polen und vor allem Vietnamesen. Der Vorwurf lautete „gewerbs- und bandenmäßiges Einschleusen von Ausländern, gewerbsmäßiger Diebstahl, Handel mit unverzollten Zigaretten“. An der Aktion beteiligt waren auch die Gemeinsame Ermittlungsgruppe Zigaretten (GE Zig) aus LKA und Zollfahndung Berlin-Brandenburg sowie Kriminalbeamte aus den Ländern Sachsen und Brandenburg. „Berlin ist ein Verteilerkopf für Schleusungen aller Nationalitäten in alle Richtungen, insbesondere Vietnamesen“, sagt Guido Fahnenschreiber. Das liegt an den guten Strukturen der vietnamesischen Community. Vietnamesen waren seit 1980 als Vertragsarbeiter zur zweitgrößten Gruppe von Ausländern in der DDR geworden. Sie lebten ghettoisiert und überwacht und mussten nach ein paar Jahren wieder zurück. Der Fall der Mauer hat ihnen Bleiberecht verschafft, wenn sie selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen.

Der Kriminalhauptkommissar aus Aachen ist seit 1990 bei der Berliner Polizei und seit 1995 beim LKA 2, grenzüberschreitende Kriminalität. 2000 ging er in eins der vier Kommissariate, die sich mit Schleusung befassten. Damals noch ohne ethnische oder nationale Spezialisierung. Die kam erst 2002. „Es gab einen Hinweis zu vietnamesischen Schleusern, wir sind in die Ermittlung eingestiegen und stellten schnell fest, dass Vietnamesen in großer Zahl von Vietnamesen nach Berlin geschleust wurden.“ Im selben Jahr beginnt der erste große Prozess gegen zehn Angeklagte. Seitdem hat die GE aus LKA 222 und Bundespolizei zehn vietnamesische Großschleuser-Banden vor Gericht gebracht, rund dreißig Leute wurden verurteilt zu rund achtzig Jahren Haft. Zwei weitere große Prozesse beginnen diesen Sommer – gegen die rund dreißig Beschuldigten aus dem Coup vom Dezember und einem weiteren vom November 2005. Ein satter Erfolg für zähe Arbeit. Der Preis: „Wir schieben Jahresurlaube von ein, zwei Jahren vor uns her“, sagt Fahnenschreiber.

Auch Oliver Koenis ist Spezialist für Schleusung auf vietnamesisch. Der gebürtige Berliner, der sich zunächst am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität zum Politologen und danach zum Kriminalkommissar ausbilden ließ, wollte eigentlich „zu den arabischen Clans“. Aber die Jungs vom LKA 222 haben ihn vorher zu sich geholt. Inzwischen kennt er die Anatomie dieser speziellen Branche der organsierten Kriminalität bis ins Detail. „Man muss sich das so vorstellen“, beschreibt er, „ein Familienmitglied wird auserkoren, nach Europa zu gehen und Geld zu verdienen, um die Familie zu unterstützen. Die Familie tritt in Vietnam an einen Vermittler heran, das Ziel wird ausgemacht, danach richtet sich der Schleuserlohn.“ Schleusung nach England ist am teuersten, weil am risikoreichsten. Die Zusammenarbeit zwischen französischer und englischer Polizei vor allem am Eurotunnel ist gut. Kaum jemand kommt da beim ersten Mal durch. Und auch nicht jeder kommt lebend auf die Insel. 1998 starben 58 Menschen in einem Container voller Tomaten.

Schleusung ist teuer. Zehn-, auch zwanzigtausend Euro kann es kosten, um aus einem vietnamesischen Dorf nach Westeuropa zu gelangen, erst recht, wenn Garantieschleusung vereinbart ist. „An das ganze Geld kommen wir aber nie“, erklärt Koenis weiter „denn das wird in Etappen bezahlt.“ Die Routen, zumeist im Flugzeug nach Moskau oder in andere russische Städte, von dort weiter über Land durch die Ukraine oder Polen oder Tschechien, sind aufgeteilt. An jedem Transit-Ort sitzen Statthalter, wenn die Schleuserbande so kompakt ist, dass sie von Fernost bis Fernwest alles in einer Hand hat. Oder „Subunternehmer“ aus dem jeweiligen Land, die unauffälliger an Leihwagen und samt ihrer „Fracht“ über Westgrenzen kommen. „An jedem Etappenziel dürfen die Geschleusten mit ihren Angehörigen telefonieren: Ich bin da. Die nächste Rate ist fällig, die wird in Vietnam an die Kontaktleute bezahlt.“

Koenis und Fahnenschreiber haben viele solcher Heimatgespräche abgehört. Sie kennen Routen und Raten. Sie kennen auch die Dramen, wenn eine Familie das fällige Geld gerade nicht aufbringen kann, weil nicht mal die erhoffte magere Ernte einzubringen war. „Dann werden die Leute praktisch gefangen gehalten“, sagt Fahnenschreiber, „und dafür werden ,Lagerkosten‘ erhoben, so nennen die Schleuser das zynisch.“ Hundert bis zweihundert Euro pro Tag. Für anfallende Extra-Ausgaben – Telefonate, Bewacher, Essen. „Oft nur Reis und Punkt. Manchmal über Wochen und Monate. Und wenn sie mal ein paar Tage nicht versorgt werden können, dann bereitet das den Schleusern wenig Kopfzerbrechen.“ Ebenso wenig wie die drangvolle Enge, in der zehn, zwölf Menschen in Einzimmerwohnungen „zwischengelagert“ werden. Irgendwo in Osteuropa. Oder in einem der Plattenbauten in Lichtenberg, der letzten Etappe vor dem „garantierten“ Weitertransport nach England, Skandinavien, Italien.

„Auf Gedeih und Verderb ausgeliefert“, sagt Elke Plathe, Kriminaloberrätin und Leiterin der Auswertungseinheit des LKA 22. „Sie haben keine Pässe, sie sind vollkommen illegal hier, und es gibt Hinweise, dass manche Frau ihrem Schleuser für sexuelle Handlungen zur Verfügung stehen muss.“ Aber die Frauen schweigen aus Angst. Strafe würde nicht nur sie selbst treffen, sondern auch die Familie in der Heimat. Womöglich das ganze Dorf. „Die Geschleusten stehen unter ungeheurem Druck. Sie nehmen auf sich, auf der ganzen Reise furchtbar behandelt zu werden, geschlagen, eingesperrt. Dann werden sie von der Polizei aufgegriffen – es ist doch völlig klar, dass sie uns nichts sagen mögen.“ Sie wollen einfach nur wieder raus, zu ihren Schindern, damit die sie weiterbringen. An den Zielort. „Damit steht und fällt das Ansehen der Familie oder des Dorfes. Dafür lassen sie sich – ja, wie Vieh durch die halbe Welt verfrachten. Und die Schleuser machen damit ungeheure Mengen von Geld. Das ist menschenverachtend.“

Bei rund 160 Geschleusten, die laut Aussage einer Schleuserin und eigenen Erkenntnissen der GE Monat für Monat in Berlin ankommen, sind das von 1,6 bis 3,2 Millionen Euro. In einem einzigen Monat. Geld, das nur zum Teil in die Schleusungslogistik geht. Der Rest wird nicht etwa in den Aufbau der eigenen Heimat investiert. Nicht in Straßen, Schulen, Betrieb, Kanalisation. Sondern in Hotels für den erhofften Tourismus und Häuser für die Bosse. Bauzeichnungen, schmucke Fassadenentwürfe, die bei Bandenchefs gefunden wurden, hängen im Besprechungsraum des LKA 222. Makabre Illustrationen des Geschäfts mit der vermeintlichen Humanität. Schleusung ist nicht der einzige Geschäftszweig, den vietnamesische Banden pflegen. „Sie sind in höchstem Maße pragmatisch“, sagt Fahnenschreiber. „Wenn’s mit dem Schleusen gerade schwierig ist, zum Beispiel wegen des erhöhten Verfolgungsdrucks, wird von einem Tag auf den anderen das Delikt gewechselt.“ Dann werden eben unverzollte Zigaretten verkauft, Wohnungen und Supermärkte ausgeräumt. „Im großen Stil. Da ziehen drei Leute zusammen den ganzen Tag durch diverse Märkte.“

Etwas erstaunt die Ermittler immer wieder: Opfer sind durchweg die eigenen Leute. Sie stehlen sich gegenseitig die Zigaretten. Sie pressen sich gegenseitig Schutzgelder ab. Sie räumen sich gegenseitig die Wohnungen aus. „Da wird erst mit dem Opfer Schnaps getrunken und geplaudert, und im selben Plauderton vereinbaren die Täter, ihm, falls er beim Einbruch im Haus ist, eben den Schädel einzuschlagen“, erzählt Fahnenschreiber. Und Koenis zitiert Telefonate während der Vorbereitung eines Beutezugs in den Wohnungen von vietnamesischen Stoffhändlern. „Die haben gesagt: ,Wir gehen rein, egal ob da jemand drin ist, wir nehmen die und die Werkzeuge mit, und habt ihr die Hackebeile dabei?‘ Total unemotional.“

Achtung vor dem Leben, vor Menschen gibt es in dieser Welt nicht. Geschleuste sind eine „Ware“, die „korrekt geliefert“ werden muss. „Beschädigte Ware“ oder „Ausfälle“ durch Tod gehören zum Geschäfstrisiko. Ebenso wie Festnahmen und Haftstrafen. Das Geschäft geht weiter. Die Lebensgefährtin des Bandenchefs übernimmt. Wird neuer Chef – oder war es immer schon, unsichtbar und unnachweisbar. Auch das gibt es in der vietnamesischen oganisierten Kriminalität: Frauen als „Spinnen im Netz“, die die Fäden zusammenhalten. So hat es ein Zeuge eine Angeklagte vor Gericht beschrieben.

Mitleid mit geschundenen armen Leuten, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben die Tortur einer Schleusung ertragen, findet man bei der Polizei, nicht bei den Schleusern. „Wir haben in einem Fall vier Leute zusammengepfercht im Kofferraum eines Mittelklassewagens gefunden“, erinnert sich Ursula Falkenstern, Leiterin des LKA 2. „Die konnten sich nicht mehr allein bewegen, die Gliedmaßen waren wie abgestorben.“ Sie hatten die Innenverkleidung aufgerissen, um wenigstens etwas Luft zu bekommen. Den Beamten hat es den Atem verschlagen. „Das lässt einen nicht kalt, das lässt einen auch nach Dienstschluss nicht los.“ Die Kriminaldirektorin ist Berlin ranghöchste Polizistin. Sie hat eine Menge Horror gesehen. „Man muss seine Gefühle auch nicht unterdrücken, man kann sie rauslassen. Und es lässt einen am nächsten Tag umso engagierter wieder zum Dienst kommen.“ Elke Plathe dreht immer den Fernseher ab, wenn die Bilder kommen mit „den kleinen Nussschalen, mit denen Menschen, ihre Babys an sich gepresst, versuchen, übers Mittelmeer zu kommen.“

Vietnamesen sind bei weitem nicht die Einzigen auf der Welt, die die Verzweiflung in ein scheinbar Gelobtes Land treibt. „Mich macht das böse, wenn ich sehe, wie mit denen umgegangen wird!“ Wenn sie wieder einmal einen Lastwagen oder ein „Taxi“ aufgebracht haben und der Fahrer sich verlegen oder angewidert abwendet, weil er gar nicht sehen will, in welchem Zustand Menschen aus seinem Container oder Kofferraum klettern. Die bisher grausamste Fuhre hat die GE im November 2005 aufgedeckt. Aus einem engen Hohlraum über der Achse eines Zementtransporters kamen drei Männer und eine Frau. Der Hohlraum hatte keinen Meter Durchmesser, das Loch unten im Boden einen halben Meter. Um diesen Trichter herum hatten sie irgendwie aneinander geklammert gestanden, von Tschechien bis Berlin, bei über hundert Stundenkilometern. Wäre einer rausgefallen, auf die Achse, der Fahrer hätte es nicht mal bemerkt.

„Man darf sich nicht aufreiben lassen“, sagt Ermittlerin Elke Plathe, „was wir können müssen, ist, professionell alle Erkenntnisse so verdichten und transparent machen, dass Staatsanwälte und Richter klar erkennen können, worum es geht.“ Wer ist mit wem wo über welche Telefone, mit welchen Fahrzeugen an welcher Organisation beteiligt? Wer steckt hinter welchen Spitznamen? Was heißt welches Codewort? Zwei, drei Jahre, sagt Guido Fahnenschreiber, haben sie gebraucht, um sich reinzuwühlen in Strukturen, Namen, Modi Operandi. Um Informationsnetze zu knüpfen, endlose Protokolle abgehörter Telefonate auszuwerten und den eigenen Modus Operandi zu finden. „Wenn man ihnen zeigen kann, dass man viel weiß, dass die Beweislage erdrückend ist, kriegt man auch Geständnisse“, sagt Oliver Koenis. Auch da kalkulieren Schleuser kühl: Ein Geständnis kann strafmildernd wirken. Zehn Jahre ist die Höchststrafe für bandenmäßige Schleusung.

Fünf bis sechs Jahre haben die Kommissare schon öfter durchgekriegt bei Gericht. Dazu 35 Strafbefehle. Mit „sehr viel Herzblut“, das sie in die Arbeit stecken, um die Beweislage wasserdicht zu machen „und die menschlichen Schicksale herauszuarbeiten“.

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