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Bus und Bahn waren am Donnerstag keine zuverlässigen Alternativen zum Auto. Am besten kamen oft noch die Fußgänger voran, trotz der dichten weißen Decke.

© dpa

Schnee, Mann!: Wie Berlin den ersten Schneetag erlebte

Ein Minister hebt nicht ab, eine Tram entgleist, eine Straßenreinigungsfirma kriegt die Krise – und eine alte Dame nasse Füße.

Er kam nicht überraschend, kommt er nie. Diesmal war seit Tagen schon sein Weg von Süden her medial dokumentiert worden, es hatte Warnungen gegeben, Gesetze waren vorsorglich noch vor Winterbeginn erlassen, Vorschriften verschärft worden. Denn sein letzter Besuch hatte zu lange gedauert und war im Chaos geendet. Nun ist er also wieder da, der Schnee – und die Stadt Berlin steht am Tag seines Einzugs eigentümlich unvorbereitet da. Schon wieder keine Kekse in der Kammer, keine Kohlen im Keller.

„Es schneit!“, jammern die Pendler, die im eigenen Auto nur bis zum nächsten Stau kommen werden, aber in die S-Bahnen und Busse kein Vertrauen mehr haben. An den Türen der S7, die am Donnerstagmorgen um kurz vor halb zehn am Ostbahnhof einfährt, hängen Schilder, die warnen: „Dieser Wagen ist nicht geheizt.“ Schnee, der von Schuhen abgefallen ist, hat sich auf dem Boden des Waggons in kleinen Pfützen gesammelt. Genauso war es im vergangenen Superwinter 2009/2010 auch gewesen. Ungeheizte Bahnen krächzten über gefrorene Gleise. Die zahlende Kundschaft erstarrte an Bahnhöfen.

„Es schneit!“, schreien die Kinder, die um halb sieben aus dem Fenster schauen. Nicht der Wecker hat sie geweckt, sondern das energische Schürfen der Schneeschippen auf dem Bürgersteig. Sauber sieht am frühen Morgen alles aus, neu und frisch, die Illusion ist da, die ersten Schritte auf unberührtem Boden gehen zu können – und sei es nur auf dem einen Meter Weg von der Haustür bis zur Straße. „Kindisch ist und köstlich solch Beginnen“, wusste dazu schon Christian Morgenstern. Und die Kinder werfen sich auf dem Weg zur Schule Schneebälle an ihre dicken Winterjacken.

Vor einer Friedrichshainer Kindergartentür weint ein kleiner Junge, weil er raus will in den Schnee, der ihm bis weit über die Knöchel reicht. „Wir haben doch den ganzen Nachmittag noch Zeit, um draußen zu sein“, sagt seine Mutter, aber das Kind weint weiter. Als wisse es um die Einzigartigkeit jeder Flocke, darum, dass es eben einen Unterschied macht, ob man in neuen oder in alten Schnee fällt.

Tatsächlich ist keine Schneeflocke wie die andere. Selbst wenn jede sechs Spitzen hat, die Feinstruktur unterscheidet sich immer. Sind die Temperaturen besonders niedrig, gleichen die Eiskristalle eher flachen Plättchen. Ist es nicht ganz so kalt, verwandeln sie sich in Sterne, die federleicht durch die kalte Luft wehen. Feuchter Neuschnee kann bis zu 200 Kilogramm pro Kubikmeter schwer sein. Dieselbe Menge Pulverschnees wiegt höchstens 30 bis 50 Kilogramm. Schnee, der über längere Zeit liegt und dessen Kristalle sich zu einer großen Masse verdichtet haben, kommt auf 500 Kilogramm pro Kubikmeter.

Soweit die weiße Physik. Die in der grauen Praxis bedeutet, dass die Berliner Stadtreinigung BSR, per Vertrag verpflichtet zur Räumung der Fahrbahnen, die von Bedeutung für den Verkehrsfluss sind, nicht ankommt gegen die kalten Flocken. Wie auch andere Räumdienste in anderen Gegenden des Landes nicht. Bei minus zehn Grad taut der mit Salz beworfene Schnee eben langsamer als bei normalem Wintermatschwetter.

Die BSR versicherte, schon am Morgen zwischen fünf und sechs Uhr einmal durch die Stadt gefegt zu haben. Auf den Hauptstraßen mit Linienbusverkehr seien Räumer und Streuer sogar seit drei Uhr unterwegs, auf der Stadtautobahn noch länger. Und weil es immer weiter schneite, habe man direkt die nächste Runde gezogen, die dann schon länger dauerte, weil die Streufahrzeuge zwischen den Pendlerautos im Stau steckten, die ihrerseits im Stau steckten, weil die Streufahrzeuge undsoweiter.

Was die Streufahrzeuge computergestützt auf die Straßen geblasen hatten, wirkte also nicht so wie sonst. Aufgetaut wird mit einer Mixtur aus körnigem Kochsalz, also Natriumchlorid, und einer Kalziumchloridlösung. „Feuchtsalz“ heißt die Mischung, die sich sparsamer einsetzen lässt als das Tütensalz aus dem Baumarkt. Das dürfte, wenn es nach dem Berliner Senat ginge, schon längst nicht mehr verkauft werden. Denn obwohl Salz das älteste Gift der Menschheit ist, dosiert der schneegeplagte Berliner gern nach dem Motto „viel hilft viel“ – und ruiniert damit auf Dauer die Straßenbäume. Wenn die dann im Sommer braune Blattränder haben, erinnert sich nur kein Mensch mehr an den Winter.

Und bei der BSR erinnert man sich in diesen Tagen auch nicht allzu gern an den Winter im Allgemeinen, der zum Debakel des Mammutunternehmens zu werden scheint. Der Winter 2009/2010, das bilanzierte Vorstandschefin Vera Gäde-Butzlaff im Frühjahr, habe die BSR knapp 35 Millionen Euro gekostet – und damit fast doppelt so viel wie die eingeplanten 18,3 Millionen. Noch vier Wochen vor Ostern musste das Unternehmen Helfer rekrutieren, um die Hauptstadtstraßen von dem Winterbekämpfungsrestdreck zu befreien. Zusätzlich zu den 1000 ohnehin verpflichteten Winterdienstkräften und den wegen der Glätte angeforderten 650 Helfern standen schließlich insgesamt 3600 Menschen bereit, die Stadt zu säubern.

Seither hat die BSR die Flotte ihrer Streufahrzeuge von 450 auf 470 Exemplare vergrößert und das Personal geringfügig auf etwa 2100 Mann aufgestockt. 1300 davon sind gleichzeitig im Einsatz, außerdem können bis zu 1000 Arbeitslose als Helfer rekrutiert werden. Aber auch die verteilen sich auf 890 Quadratkilometer Stadtfläche so, dass längst nicht jeder auf dem Weg zur Arbeit einen Räumdienst gesehen hat – obwohl dieser Weg an diesem Donnerstag oft doppelt so lange dauert wie an anderen Tagen. Selbst viele Hauptstraßen sind am Vormittag noch weiß.

Als Heiko Wiese vom studentischen Wetterbeobachtungsdienst in Dahlem gegen 14 Uhr 30 aus dem Fenster blickt, schneien vor seinen Augen mittelgroße Standardflocken zu Boden. „Mäßigen Schneefall“, nennt er das. Schlimm sei das alles nicht, aber „ein bisschen ungewöhnlich“, findet Wiese, weil der Winter doch gerade erst begonnen habe. Es ist die Wetterlage 5B, eine, die für Fluten sorgte in den vergangenen Jahren und für anderes ungünstiges Wetter. Weil sich warme und kalte Luftströme in ihr aufs Ungünstigste verquicken. Es geht um die Verteilung des Drucks über Deutschland, um kleinräumige Tiefs, die sich aus dem Golf von Genua auf den Weg machen nach Norden und sich, dort angekommen, festkringeln.

Das Ergebnis dieses Tuns ist deutschlandweit das weitgehende Ende der Personenbeförderung. Hunderte Flüge fielen aus, 60 in Frankfurt am Main allein am Morgen, 50 in München, 100 in Berlin bis zum Abend, gegen 15 Uhr war der Flughafen Tegel mal wegen Überfüllung gesperrt – aber nur 20 Minuten lang. Auch Züge fielen aus, dabei hatte sich die Deutsche Bahn seit Monaten „intensiv auf diesen Winter vorbereitet“, wie ihr Chef Rüdiger Grube dieser Zeitung kürzlich sagte. Doch dann fielen Bäume auf Gleise, Weichen froren ein und der Wind wehte Schneehaufen direkt vor die Depots, so dass Züge nicht ausfahren konnten.

In Nordbayern, Thüringen und Sachsen mussten die Fahrgäste schon in der Nacht Geduld haben. Rund 200 Bahnreisende steckten am Frankfurter Hauptbahnhof fest, weil ihre Züge nicht in Richtung Ostdeutschland abfahren konnten. Da wegen einer Messe kaum Hotelzimmer in der Stadt frei waren, schliefen die Passagiere in stehenden ICE-Zügen. Das Technische Hilfswerk verteilte Decken und Tee. Den Bahnhof Leipzig konnten Fernzüge zum Teil nicht anfahren, etliche Reisende warteten vergeblich. Auch in anderen Städten stellte die Bahn Aufwärmzüge zur Verfügung.

Am Abend fuhr am Berliner Hauptbahnhof fast kein Zug pünktlich, Verspätungen von weit über einer Stunde sind normal. Die Bahn habe die „Bewährungsprobe“ nicht bestanden, urteilte der Grünen-Verkehrsexperte Anton Hofreiter. Und sprach damit hunderttausenden Berlinern gleich mit aus der erkalteten Seele, die es mit der Bahntochter S-Bahn zu tun hatten. Vielmehr mit deren Versagen.

Spiegelglatte Bahnsteige und quälend lange Wartezeiten, die Hände, Ohren, Köpfe einfrieren ließen, und wenn dann endlich ein Zug kam, war der so voll, dass mancher keinen Platz darin fand und noch länger warten musste. Weichenstörungen und Schneeverwehungen wurden vom Unternehmen als Grund genannt, und natürlich können weder Bahn noch S-Bahn etwas für elf bis 15 Zentimeter Neuschnee. Aber andererseits scheint sich da gerade etwas zu wiederholen, was nicht wieder vorkommen sollte. So war es versprochen worden. Also schimpften die im Schnee stehengelassenen Fahrgäste, und der Geschäftsführer des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg, Hans-Werner Franz, sagte vergleichsweise deutlich, er sei vor allem von den Problemen bei der S-Bahn „enttäuscht“.

Ein anderer Funktionsträger dagegen fand in der Regionalbahn seine Rettung: Bundesumweltminister Norbert Röttgen wollte per Hubschrauber ins Wendland fliegen, um sich das geplante Atommüllendlager Gorleben anzugucken, aber der hob nicht ab, also landete der Minister mit Sprecherin und Personenschützer im überfüllten Regionalzug RE38260 nach Wittenberge. Zweite Klasse und ohne Fahrschein, den er auch nicht braucht, weil er wie alle Bundestagsabgeordneten eine Bahncard 100 für freie Fahrt hat.

Draußen an den eisigen Straßen des Landes wurde erbittert gegen den Winter auf Beutezug gekämpft, zwei Menschen starben bei Unfällen. Im südwestlichen Brandenburg zogen, schleppten, gruben Feuerwehrmänner mehr als eine Stunde lang im Schnee, um einen Krankenwagen freizubekommen, der sich mit einem Kranken an Bord in einer meterhohen Schneewehe festgefahren hatte. Immer, wenn die Retter glaubten, das Fahrzeug mit ihrer Zugmaschine freiziehen zu können, schlug der Wind wieder zu. Er fegte mit einem Höllentempo über die Felder und türmte neue Schneemassen zu einer schier unüberwindlichen Barriere auf. „So etwas hat es in unserer Gegend noch nicht gegeben“, sagte später ein Polizeisprecher. „Wir hatten zwar auch im letzten Winter viel Schnee, aber nicht gleich solche Wehen von mehr als einem Meter Höhe.“

So ging es vielen Autofahrern zwischen Mühlberg, Bad Liebenwerda und Lauchhammer gab es für sie in den Schneemassen kein Vor und Zurück. „20 Zentimeter Schnee wären an sich für die modernen Autos kein Problem“, sagte ein Autofahrer, der bei Neubuxdorf festsaß und sogar einen Schneeschieber dabei hatte, „aber gegen diese Schneewehen kommt keiner an.“ Dafür rief er einen Freund herbei mit einem 400 PS starken Geländewagen. Gemeinsam amüsierten die Männer sich über die gerade aufgestellten Schneefangzäune, die in Richtung der üblichen Hauptwindrichtung standen: Nordwesten. Diesmal blies der Sturm aber aus Ost.

Nicht nur auf den Straßen ging nichts mehr. In vielen Schulen blieben zahlreiche Plätze leer. Das lag nicht nur an den Eltern, die mit ihren Autos nicht durchkamen. Im Depot Gröden konnten 15 Schulbusse zunächst nicht losfahren, weil Lastwagen die Einfahrt blockierten. „90 Prozent der Probleme sind auf die Sommerreifen der Lkw zurückzuführen“, sagte ein Polizist. Als wären Winterreifen und die Pflicht, sie zu nutzen, nicht monatelang Nachrichtenthema gewesen. Auf Autobahnen und Bundesstraßen gerieten Lastwagen nun immer wieder ins Schleudern.

Ein nicht mehr für möglich gehaltenes Bild bot die Autobahn zwischen Berlin und Frankfurt (Oder). Auf den letzten zehn Kilometern vor der Grenze nach Polen stauten sich Lastwagen in Zweierreihen wie vor dem Wegfall der Kontrollen Ende 2007. Die Ursache hatte sich schnell herumgesprochen: Baustelle hinter der Grenze und Eisglätte.

In Berlin hat die BVG, die Verkehrsgesellschaft, derweil die Weichenheizung angestellt, auf dass ihre Trambahnen durch die vereiste Stadt rollen können. Aber auch das hat Tücken, denn nun taut und friert der Schnee darauf und daneben ständig im Wechsel. Die Eisklümpchen bereiten Probleme. Am Kupfergraben in Mitte entgleiste am frühen Nachmittag eine Tram. Nichts Ungewöhnliches im Winter, sagte die Sprecherin der BVG, Petra Reetz. Ein Kran wurde bestellt, der die Bahn zurück ins Gleis hob.

„Deutlich mehr Fahrgäste“, verzeichnete die BVG am ersten schneereichen Wintertag und war zufrieden mit sich und dem Betrieb, der ohne große Ausfälle ablief. Die Straßenbahnen verspäteten sich um durchschnittlich 20 Minuten, die Busse allerdings erheblich, weil teilweise nur Schritttempo möglich war. Und auch die Menschen waren langsamer als sonst. Vorsichtig stiegen sie ein und aus, bloß nicht ausrutschen!

Eine alte Dame müht sich, mit ihrem Rollator eine Schneewehe zu bezwingen. Sie möchte den Bus Richtung Hauptbahnhof besteigen, für ein paar Stationen nur. Man könnte zu Fuß gehen, normalerweise, aber es rutscht und glitscht schon auf den Gehwegplatten, so sehr, dass sich Freunde unterhaken und an den Händen fassen. Da nimmt sie lieber den Bus, der geduldig wartet. Der Ausstieg erfolgt rückwärts. Und dann tritt sie in einen Schneehaufen am Rande der Straße. Nun sind die Füße nass. Es ist doch immer dasselbe.

Mitarbeit Carsten Brönstrup

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