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© Davids

Schneeräumung: Nachtfahrt auf einem Streuer in Berlin

Weiß und Weiß macht Schwarz: Schnee und Salz. Aber wie viel davon verträgt die Umwelt? In Berlin beantwortet diese Fragen ein Computer. Eine Nachtfahrt auf dem Streuer St 516.

Im Frühjahr, wenn alles weggetaut ist, werden sie wieder kommen und sagen, dass alles falsch war. Dass man überhaupt kein Salz hätte nehmen sollen. Dass Salz Schäden verursacht, immer, egal, wie man es dosiert. Dass es nach Jahren in den Böden noch hochkommen kann, um bei den Blättern Blattrandnekrosen zu verursachen. Das alles werden sie vorbringen, auch diejenigen, die jetzt am lautesten darüber schimpfen, dass in weiten Teilen des Landes die Salzvorräte zur Neige gehen.

Mitten in der Berliner Nacht, um kurz vor drei Uhr morgens, überspielt der Einsatzleiter der Berliner Stadtreinigung an der Pankower Kniprodestraße per Mausklick die Touren für die Räum- und Streuwagen auf deren GPS-Systeme. Vorgezogene Frühschicht. Die Losung kommt per Rundruf: Räumen, dann Streckenstreuung, 25 Gramm Salz pro Quadratmeter.

In diesen winterlichen Tagen fürchten sich alle vor einer drohenden Wetterkatastrophe. Rainer Bartmann tut, was er kann. In festem Schuh und orangefarbenem T-Shirt schließt er mit dem personalisierten Touch-Key seinen Salzstreuer St 516 auf, die alte Möhre, die sogar möhrenfarben ist, aber was soll’s, die wird nur drei Monate im Jahr benutzt. Er wirft das „Streubuch“ aufs Armaturenbrett, der Diesel springt an, Bartmann dreht die Heizung auf, stellt vorne den Pflug schräg, gibt Gas. Im Rücken ein paar Tonnen Salz auf der Schütte, in den Kanistern 20-prozentige Kalziumchloridlösung, vor sich Tour 7. Hinein in das Schneetreiben einer Winternacht, in der Bartmann, thronend über dem Pflug, Garant des Berufsverkehrs, Retter des Bruttosozialprodukts, zur Schicht bestellt, damit kein Leistungsträger ins Schlingern gerät, aus der Einfahrt biegt. Es sind Tage der Überstunden, Heldentage. Nur schwarze Straßen sind gute Straßen.

Umweltschützer nennen Salzsstreuung ein Unding, Busfahrer notwendig. Die BSR nennt es einen Kompromiss aus Verkehrssicherheit, Umweltschutz und Wirtschaftlichkeit. Bartmann, 43, nennt die Sache seinen Beruf, seit 1982, damals noch im Osten, jetzt im Westen, immer im Schichtdienst.

Im Sommer geht es um Müll und Gestank, im Herbst um Laub, im Frühjahr um den Frühjahrsputz, um Sand und um Splitt, aber im Winter, da geht es um Menschenleben. Im Winter wird der Dienst existenziell. Da steht der Einsatzleiter vor der Frage, ob der Himmel hält. Da bewegt sich der Fahrer im Spannungsfeld zwischen Vorgaben, die er nicht überschreiten darf, und persönlicher Haftung für die Effizienz seiner Arbeit. Winterdienst ist „strafbewehrt“, justiziabel. Deshalb pflegt der Fahrer ein Gefühl für Gefahr, für persönliche Verantwortung.

Das Salz, das jetzt mit einem Mal wieder so kostbar ist, abgebaut im Harz, über den Sommer mit Antibackmittel im hölzernen BSR-Silo gelagert, mischt sich im Gedärm des Wagens mit dem Kalziumchlorid aus den Tanks, 70 Prozent Trockensalz, 30 Prozent Lösung, der Streuteller schleudert das Gemisch auf den Asphalt, die Gesamtmenge angepasst an die Geschwindigkeit.

Ein Meilenstein, die Feuchtsalztechnik, das sagen alle. Seither braucht man viel weniger Salz. Denn Feuchtsalz klebt auf der Fahrbahn, wird nicht verwirbelt, nicht davongetragen. Und tauen kann man mit Kalziumchloridlösung noch bei minus 16 Grad.

Der Wagen hat ein Automatikgetriebe, so hat Bartmann die rechte Hand frei für den Streuregler. Er stellt ein: die Spurbreite, die Richtung, die Salzmenge, regulierbar von fünf bis 25 Gramm pro Quadratmeter. Er fährt links und streut die rechte Spur mit, er fährt rechts und wirft nach links mit aus, er verbreitert die Streuung bei Abbiegespuren. Das GPS empfängt nicht nur die Route, es meldet auch zurück, und zwar sekündlich: Fahrgeschwindigkeit, Streubreite und -menge, lückenlos dokumentiert.

Bartmann konzentriert sich jetzt auf seinen Salzstreuer. Er und seine Kollegen sind ja zu Zeiten unterwegs, von denen man anderen abrät. Geräumt und gestreut ist erst hinter ihnen, nicht vor ihnen. Mittelinseln sind plötzlich im Schnee versunken wie unterseeische Sandbänke. Unter dem Schnee liegen vorspringende Bordsteine, hochstehende Gullys oder aufstrebende Tramgleise. Da kann sich der Pflug verhaken, wenn man den Bordstein als Führungsschiene wählt. Die steinerne Stadt ist immer stärker als der Pflug. Da ist es gut, wenn man durch jahrelange Erfahrung die vorspringenden Ecken kennt.

Winfried Becker, Bartmanns Chef, ist das einmal passiert, im legendären Winter 78/79, da räumte er Unter den Linden. Er war gerade erst ein Jahr dabei, da schnappte er sich einen der neueren Wagen und wollte den Räumkonvoi anführen. Aber es fehlte ihm an Erfahrung, und kurz vor dem Brandenburger Tor verhakte sich sein Pflug. Das tonnenschwere Hinterteil des Wagens stieg um einen Meter in die Luft. Alles, was im Führerhäuschen war, drängte gegen die Windschutzscheibe, inklusive Beifahrer. Der war sein Chef.

Jetzt ist Becker, seit 33 Jahren dabei, 60 Jahre alt und Chef der gesamten Reinigung bei der BSR. „Mit winterlichen Ereignissen“, sagt er, „ist immer eine Entscheidung verbunden.“ Streckenstreuung? Schichtverlängerung? Überreagieren kostet Geld, zu viel Gelassenheit kostet später Nerven.

1978, als das erste Umweltbewusstsein erwachte, hatte man in Berlin die Notsalzpläne eingeführt. Kein Wunder, denn das Salzen vorher war übermäßig. Es gab kein Feuchtsalz, man brauchte irre Mengen Trockensalz, das kaum auf der Straße gleich wieder vom Winde verweht wurde, es gab weder Computer noch Dosiermaschinen.

Im Osten kippte man Magnesiumchloridlauge auf die Straße, praktischerweise ein Abfallprodukt der chemischen Industrie. Im Westen unterschied man den großen und kleinen Notsalzplan, weshalb man nachts, wenn in ganz Berlin die Situation endlich schlimm genug war, den Senator wachklingeln und sich die Erlaubnis zum Streuen holen konnte. Mit dieser Regelung war man, natürlich, immer zu spät. Statt mit wenig Salz Eis gar nicht erst entstehen zu lassen, musste man mit viel Salz dicke Eisbretter auftauen. Seitdem die Notsalzgesetze 2003 ihre Gültigkeit verloren haben, ist es auch erlaubt, dem Wetter zuvorzukommen.

Und genau so sieht es jetzt aus. Der Schnee rieselt leiser als angekündigt, den Pflug muss Bartmann gar nicht runterlassen. Vier Uhr ist durch, Berlin liegt vor ihm, wehrlos zugedeckt und hell reflektierend. Zur Ruhe gebettet durch den Schnee. Bartmann fährt nach den Regeln seiner Zunft. „Salz muss arbeiten“, besagen die. Salz kann nur arbeiten, wenn es in Bewegung ist. Reibung durch Reifen stärkt seine Tauwirkung. Es ist deshalb besser, wenn viel Berufsverkehr Salz und Schnee gehörig walkt. Bartmann schaltet hinter dem Ortsschild Schildow, Ortsgrenze Berlin, den Streuer aus, wendet und fährt auf der zweiten Spur zurück.

Da kann er die Wirkung der Herfahrt schon sehen. Salz wirkt schneller als eine Kopfschmerztablette. Weiß und Weiß macht Schwarz. Ende der ersten Tour um 4 Uhr 54, knapp anderthalb Tonnen Salz gestreut. Zurück in der Kantine nimmt Bartmann ein Eiersalatbrötchen und Früchtetee. Dann geht es in die zweite Runde. Überprüfen der Fahrbahn, differenzierter Winterdienst.

Seitdem es den „differenzierten Winterdienst“ gibt, der 2003 die Notsalzpläne ablöste, liegt das Salz in Berlin nur noch wie der feine Salzrand einer Margarita um die Stadt, auf Straßen, die als Einsatzstufe E1 klassifiziert sind, verkehrswichtige Straßen und solche mit Buslinien.

Es gibt ja in Berlin restriktive Grundsätze, hatte Becker erzählt, wie in keiner anderen Stadt: Es ist zum Beispiel nach dem Straßenreinigungsgesetz verboten, auf Gehwegen zu streuen. Reines Trockensalz darf gar nicht mehr verwendet werden. 25 Gramm Salz pro Quadratmeter sind die Höchstmenge. Auch das punktuelle Streuen, das gibt es nur in Berlin, wenn die Fahrer je nach Glätte entscheiden und dann salzen: 40 Meter vor einer Haltestelle, 15 Meter dahinter, 25 Meter vor einer Kreuzung und die Fußgängerüberwege dahinter. Der Fahrer wählt, zwischen zehn und 25 Gramm.

Becker hatte zuvor von einer Studie des Umweltbundesamtes erzählt, die besagt, dass dieser sogenannte „differenzierte Winterdienst“ mit Feuchtsalz umweltfreundlicher ist als die Benutzung von Splitt. Für eine ähnliche Wirkung braucht man nämlich die zehnfache Menge Splitt. Trotzdem fährt sich die Oberfläche immer wieder glatt, in nur wenigen Minuten schleudert der Berufsverkehr die Splitter an den Rand. Nach dem Auftauen muss man das Material mit riesigem logistischen Aufwand davon abhalten, die Kanalisation zu verstopfen, man muss es einsammeln und entsorgen.

Bartman ist jetzt seit 14 Tagen im Dauereinsatz. Das zweite Wochenende in Folge, in denen er sein Arbeitszeitkonto füllt mit Stunden, die irgendwann abgebummelt werden müssen. Vorgezogene Frühschicht ab drei Uhr morgens, verlängert bis 13 Uhr mittags. Das zweite Wochenende in Folge, in dem ein Kneipenbesuch nicht in Frage kommt, denn vielleicht müssen sie ja wieder raus um drei, und dann müssen sie nüchtern sein. Besser, man hält die Streu vom Weizen getrennt.

Zwölf Prozent der weltweiten Salzproduktion werden als Auftausalz benutzt, zehn Prozent gelangen in Speisen. Einige Kommunen in Deutschland haben wohl auf einen milden Winter spekuliert und jetzt kein Salz mehr. Die BSR allerdings hat langfristige Verträge, Lieferung innerhalb von 48 Stunden, die Preise sind fest. „Aber ganz Deutschland braucht jetzt Salz“, sagt Becker. Und wenn keins mehr da ist, kann man auch mit Vertragsstrafen keine Forderungen mehr durchsetzen. Auch Streusalzlieferanten erreichen auf den Autobahnen zur Zeit nicht mehr als 60 Stundenkilometer.

Rainer Bartmann trägt in sein Streubuch ein: 7.35 Uhr, Ende der zweiten Tour, 930 kg Salz losgeworden. Wenn alles wegtaut, sagt Winfried Becker, wird man erst sehen, was die Berliner zu Silvester weggeknallt haben. Rainer Bartmanns St 516 wird dann Pause haben. Ab Frühjahr fährt er eine Kehrmaschine.

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