zum Hauptinhalt
Der Estrel Tower (hier ein Bild vom September 2023) soll Berlins höchstes Gebäude werden.

© Imago/Emmanuele Contini

Schwieriges Verhältnis zu Hochhäusern: Warum Berlin so selten in die Höhe wächst

Es wird eifrig gebaut, der Estrel Tower soll das höchste Gebäude der Stadt werden. Dennoch konnte sich Berlin nie wirklich mit Hochhäusern anfreunden. Eine Analyse.

Berlin ist eine flache Stadt, breitet sich aus in der glazial geprägten norddeutschen Tiefebene, von keinen natürlichen Barrieren im Wachstum behindert. Hochhäuser haben die Architekturgeschichte der Stadt bisher nicht geprägt, was natürlich auch an der berühmten Traufhöhe von 22 Metern liegt – sie geht noch zurück auf den von James Hobrecht in den 1860er-Jahren entwickelten Bebauungsplan.

Dass sich das jetzt teilweise ändert, kann jeder sehen, der Berlin von einem etwas erhöhten Standpunkt aus betrachtet. Überall ragen einzelne Türme in die Höhe, besonders prominent der 142 Meter hohe East Side Tower an der Warschauer Brücke in Friedrichshain. Er wird demnächst übertroffen werden vom Estrel Tower in Neukölln, der mit 176 Meter das höchste Haus Berlins werden soll. Und am Alexanderplatz errichtet das französische Unternehmen Covivio einen Turm, den Berlinerinnen und Berliner bisher vor allem wegen der monatelangen Sperrung der U-Bahnlinie 2 wahrgenommen haben.

Chicago oder San Francisco haben Architekturgeschichte geschrieben

Doch mit südamerikanischen, inzwischen auch afrikanischen Metropolen, selbst mit chinesischen Provinzstädten kann Berlin sich nicht vergleichen, was Hochhäuser angeht – schon gar nicht in der Dichte der Aufstellung. Selbst die Downtown mittelgroßer Städte in den USA ist, was das betrifft, aufregender, ganz zu schweigen von denen der Golfstaaten. Die Skylines von New York, Chicago, San Francisco wurden zu Markenzeichen, ihr Kampf um den schlankesten, elegantesten, höchsten, teuersten Wolkenkratzer hat Architekturgeschichte geschrieben.

So soll der Estrel Tower in Neukölln einmal aussehen.

© Estrel Berlin/Barkow Leibinger

Rotterdam nutzte den Wiederaufbau nach dem Krieg und dann den Neoliberalismus der 1990er-Jahre, um seine Innenstadt zu einer dramatischen Hochhausszenerie zu formen. Oslo hat sich eine regelrechte neue Wasserfront gegeben, hauptsächlich aus Wohnhochhäusern. In London hat – trotz scharfer Kritik etwa von David Chipperfield – kapitalistischer Wildwuchs seit den Thatcherjahren das alte Gesicht der Stadt, die historische Dominanz vor allem der Kathedrale St. Pauls, zerschlagen. Aber solch ein gebautes soziales, kulturelles und wirtschaftliches Pathos sucht man in Berlin vergebens.

Unter den älteren Bauten könnte man allenfalls das golden schimmernde Springer-Hochhaus an der Rudi-Dutschke-Straße und das 1965 nach Plänen des Düsseldorfer Büro HPP eingeweihte, ziemlich genau amerikanischen Vorbildern nachempfundene West-Berliner Europa-Center zu solchen Signalarchitekturen zählen. Ihm antwortete politisch die DDR mit dem Turm des einstigen Hotels Stadt Berlin am Alexanderplatz, 1979 nach Plänen des Kollektivs Roland Korn, Hans Scharlipp und Hans-Erich Bogatzky.

Das einstige Postscheckamt am Landwehrkanal überzeugt durch Eleganz

Seit er in den 2000ern eine glatte Außenhaut erhielt, ist die Übernahme von Formen des International Style noch deutlicher zu sehen. Zu erwähnen wären auch das durchaus elegante einstige Postscheckamt am Landwehrkanal und die kraftvolle Reihe der Wohntürme an der Leipziger Straße; angeblich wollte die DDR-Regierung mit diesen Bauten den Blick auf den goldenen Springer-Turm verdecken.

Doch all dies sind lokale Ereignisse geblieben. Nach Berlin fährt niemand, um sich Türme anzusehen. Allenfalls die vier am Potsdamer Platz mit dem Kollhoff-Turm in der Mitte – übrigens eines der wenigen deutschen Geschäftshochhäuser, das nach seinem Architekten benannt wurde – haben eine gewisse überregionale Wirkung gehabt. Vor zwanzig Jahren.

Welch ein Unterschied etwa zu Frankfurt am Main, wo seit Jahrzehnten ein Hochhausentwicklungsplan dafür sorgt, dass der einstige Wildwuchs im Bankenviertel gezähmt wurde und immer neue aufregende Bauten entstehen, wie zuletzt das von Coop Himmelb(l)au entworfene Hochhaus der Europäischen Zentralbank. Oder zu Hamburg, wo sich der „Elbtower“ als silbern blitzende, in sich gedrehte Scheibe 244 Meter hoch strecken soll.

Offenbar ist die Berliner Abneigung gegen Hochhaus-Debatten tief verankert: So stieß die städtebaulich und wirtschaftlich, sogar ökologisch durchaus sinnvolle Vervollständigung der langen Hochhausreihe an der Leipziger Straße entlang der Grunerstraße auf massiven Widerstand. Selbst der Umbau des bereits bestehenden früheren Postscheckamts wird vor allem als drohende Gentrifizierung gesehen. Hochhäuser als ökologisch sinnvolle Verdichtung des Lebens – nicht in Berlin. Welcher Berliner weiß denn schon, dass der Ullstein-Turm in Tempelhof bis 1957 das höchste nichtkirchliche Gebäude Deutschlands, eines der höchsten Europas war?

Der East Side Tower an der Warschauer Brücke in Friedrichshain

© dpa/Wolfgang Kumm

Kein einziges Berliner Hochhausprojekt steht entsprechend in irgendeiner international verbreiteten Hitliste. Vielleicht änderte sich das, wenn diese auch Korruptionsskandale aufführte: Dann hätte der Steglitzer Kreisel, dieser von der Architektur-Unternehmerin Sigrid Kressmann-Zschach als atemberaubende Subventionsspekulation geplante Turm, eine gute Chance, etwa als adäquat zum Skandal des Pariser Tour Montparnasse wahrgenommen zu werden. So aber gilt dieser eigentlich durchaus elegante, städtebaulich brillant gestellte 120-Meter-Turm – man denke sich einmal den fürchterlich klobigen Unterbau weg – als Sündenfall im bürgerlichen Steglitz. Ob der sich seit Jahren dahinschleppende Umbau für Luxuswohnungen etwas daran ändert, muss sich zeigen.

Eigentlich machte man sich hier als erstes Gedanken über Hochhäuser

Das Absurde dabei ist: Berlin war mit Leipzig und Köln die erste deutsche Großstadt, die systematisch an den Bau von Hochhäusern dachte, schon in der Kaiserzeit, dann noch mehr in der Weimarer Republik. Der Wettbewerb für das „Turmhaus“ neben dem Bahnhof Friedrichstraße von 1921 sollte zum Startschuss werden.

Doch obwohl die Elite der damaligen deutschen Architektenschaft sich beteiligte, ging das Projekt an den schwierigen Untergrundverhältnissen, der Inflation, sicher auch am Kapitalmangel des Berliner Bürgertums, eigentlich aber an der Nicht-Notwendigkeit zugrunde: Niemand brauchte in Berlin ein Bürohochhaus dieser Größe an dieser Stelle. Man konnte anderswo billiger in der Horizontalen bauen, was auch geschah. Die herrlichen Pläne von Hans Poelzig oder der Glaskristall Mies van der Rohes blieben also Vision.

Berlin nämlich konnte sich im Unterschied etwa zu New York oder Frankfurt am Main immer ausdehnen, auch war die Innenstadt im Vergleich etwa zu Paris eher niedrig bebaut. Verdichtung konnte hier bis in die 1920er-Jahre ohne Weiteres im Rahmen der kaiserzeitlichen Fünf- bis Sechsgeschossigkeit – eben die Berliner Traufkante – stattfinden. Deswegen sind Hochhausbauten in Berlin immer entweder ein politisches Statement gewesen oder ein Versuch, die seit der Kaiserzeit chronische Wohnungsnot wirtschaftlich effizient durch Stapelung der immer gleichen Grundrisse zu lösen.

Mit erheblichen Folgen: Wer sich auf den Teufelsberg oder den Friedrichshain stellt, sieht durchaus lange Reihen von Hochhäusern, einzelne Türme, ganze Gruppen. Doch werden diese in der öffentlichen Debatte kaum wahrgenommen, vor allem aus sozialen Gründen: Es handelt sich meist um Projekte des sozialen Wohnungsbaus des alten West-Berlin, etwa in Kreuzberg, Wedding, im Märkischen Viertel, dem Falkenhagener Feld, der Thermometersiedlung in Lichterfelde oder der Gropiusstadt. Oder um die ebenfalls seit den 60er-Jahren entstandenen Wohnungsneubauten der DDR, die oft als „Platte“ unziemlich verachtet wurden, inzwischen aber hoch beliebt sind.

Jedes Mal, wenn diese oft dank des deutschen Baurechts sehr locker gestellten Scheiben und Türme durch Neubauten oder gar Hochhäuser ergänzt werden sollen, gibt es massive Proteste. Es gab unzählige Architekteninitiativen, die etwa die City West zu einem Hochhausviertel machen wollten. Man wollte doch so gerne New York, gar Schanghai oder London sein. Doch auch diese Projekte scheiterten viel weniger am mangelnden politischen Willen als an der fehlenden Notwendigkeit.

Solange Berlin derart luftig gestrickt ist, solange Brandenburg immer neue Baugebiete aufmacht, solange das heute nur für Superreiche gedachte Hochhaus nicht wieder entdeckt wird als Mittel, um durch Verdichtung die Wohnungsnot insgesamt zu lösen – solange gibt es keinen Druck, sie zu bauen. Das schließt nicht aus, dass einzelne Projekte wie die am Osthafen oder in der Europacity durchaus interessant sind. Aber auch sie können nichts daran ändern: Berlin ist keine Hochhausstadt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
false
showPaywallPiano:
false