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Berlin: Sein neuer Tatort

Michael Tsokos ist jetzt der oberste Rechtsmediziner Berlins. Auch Lebende sollen davon profitieren

Michael Tsokos will nicht nur Tote obduzieren. Mit beruhigend norddeutscher Stimmfärbung erklärt der 39-Jährige, wieso Lebende von der Tätigkeit des Instituts für Rechtsmedizin der Charité und des entsprechenden Berliner Landesinstituts profitieren sollen. Seit dem 1. Januar leitet Tsokos offiziell beide Institute in Personalunion – und will sie auch als Anlaufstelle für Gewaltopfer in Berlin etablieren. „Wir sind die Experten, die Verletzungen dokumentieren und ihre Ursache bestimmen können“, sagt er. Und das sei wichtig für Verletzte, die sich unsicher sind, ob sie die Straftat beweisen können – und deshalb womöglich auf eine Anzeige verzichten. Auch Pflegemängel ließen sich so aufdecken, etwa Druckgeschwüre bei Patienten, die nicht regelmäßig in ihrem Bett bewegt wurden.

Tsokos, eben noch Oberarzt an der Rechtsmedizin in Hamburg, jetzt Professor in der Hauptstadt, will offenbar nicht nur an Sektionstischen stehen, sondern auch in öffentlichen Debatten mitreden, etwa über misshandelte Kinder. Der 39-Jährige ist selbst Vater zweier Söhne, einer vier Jahre alt, der andere neun Monate. Und nun will Tsokos mithelfen, solche Taten früh zu entdecken. Zum Beispiel, wenn Eltern den Ärzten etwas von einem Sturz ihres Kindes erzählen, um die blauen Flecken zu erklären. „Wir können unterscheiden, ob die Verletzung von einem Unfall herrührt oder einer Misshandlung“, sagt Tsokos. Deshalb wünscht er sich, an seinen Instituten eine 24-Stunden-Ambulanz mit angeschlossener gynäkologischer Abteilung einrichten zu dürfen. Und wer soll das bezahlen? Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) wäre eine Möglichkeit, meint Tsokos. Schließlich sei die KV für die Prävention verantwortlich. „Und die Politik ist da auch in der Pflicht.“

Aber so ganz ohne Leichen – das wäre dann wohl doch keine Gerichtsmedizin. Statt der jetzt rund 500 Verstorbenen, die im Charité-Institut obduziert werden, sollen es unter dem neuen Chef 1000 bis 1200 werden. Und das, obwohl ihm dann statt jetzt 40 nur noch 16 Mitarbeiter für das Charité-Institut zur Verfügung stehen. „Dafür haben wir aber sieben Ärzte, die die Sektionen vornehmen“, sagt Tsokos. „Zwei mehr als bisher.“ Macht rechnerisch rund zwei Tote pro Mediziner und Arbeitstag.

Weitere 1000 Leichenschauen wird dann das Landesinstitut für Gerichtsmedizin vornehmen. Rund 500 weniger als bisher. Im Landesinstitut sind insgesamt 50 Mitarbeiter beschäftigt. Bei den zusammen 2000 Sektionen jährlich werde es auch im neuen Standort im ehemaligen Krankenhaus Moabit bleiben. Heute ziehen die Mitarbeiter von Dahlem dorthin um. „Am Freitag werden wir die ersten Obduktionen vornehmen“, sagt Tsokos. Dafür steht in Moabit ein Sektionssaal mit fünf Tischen zur Verfügung.

Tsokos, Mitherausgeber eines renommierten rechtsmedizinischen Jahrbuchs, gilt als „Star der Szene“. So jedenfalls bezeichnet ihn Martin Paul, Dekan der Charité. Er sei in Hamburg ein bei den Studenten beliebter Hochschullehrer gewesen – und einer von sehr wenigen seiner Branche, die mit einem „Bambi“ ausgezeichnet wurde. Tsokos und die anderen Mitglieder der Identifizierungskommission des Bundeskriminalamtes erhielten den Medienpreis 2005 für ihre Arbeit in der Tsunami-Katastrophenregion, wo sie unter schwierigsten Arbeitsbedingungen bei der Identifizierung der Opfer halfen.

In der Rolle des Exekutors der vom Charité-Vorstand beschlossenen Personalreduzierung allerdings fühlt sich der Mann nicht recht wohl: „Ich weiß, dass es für die Betroffenen schwer wird.“ „Aber“, fügt er hinzu – er muss ja den Chef demonstrieren – „wir müssen wirtschaftlicher denken, als es bisher der Fall war.“ Gerüchten, dass auch der bei den Charité-Studenten sehr beliebte Dozent Helmut Maxeiner „abgeschossen“ werden soll, treten Charité-Vorstand und auch der neue Direktor vehement entgegen: Maxeiner soll weitermachen, heißt es von beiden. Denn Tsokos wird zwar auch Vorlesungen halten, aber bei rund 300 Studenten pro Semester bleibe genug Arbeit für zwei Dozenten.

Durch neue Einnahmequellen hofft Tsokos, ab Sommer ein paar Stellen für das Institut finanzieren zu können. Auch dabei geht es nicht um Begutachtungen toter Körper. Eher um Vaterschaftstests oder Drogenscreenings bei Kraftfahrern.

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