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Berlin: Selbstmord: Wenn die Lust am Leben aufgebraucht ist

Kein dunkler Himmel, der auf die Seele drückt, und keine Kälte, die nach dicken Mänteln schreit. Bunte Farben, verliebte Pärchen.

Kein dunkler Himmel, der auf die Seele drückt, und keine Kälte, die nach dicken Mänteln schreit. Bunte Farben, verliebte Pärchen. Überall. Und dennoch: "Im Frühjahr versuchen besonders viele Menschen, sich umzubringen", sagt die Psychologin Ulrike Haase. Worüber man sich in der gedrückten Stimmung des Winters noch hinwegtäuschen konnte, das schmerzt angesichts der Verliebtheit Anderer sehr: Einsamkeit. Teenager erleben ihren ersten Liebeskummer. Manche wissen noch nicht, dass solche Krisen vorbeigehen - und suchen den Tod als scheinbar einzigen Ausweg. So, wie am vergangenen Wochenende, als zwei Jugendliche in Berlin freiwillig in den Tod sprangen.

Jeden Tag sitzen 18 Mitarbeiter beim senatsfinanzierten Krisendienst bereit, um am Telefon Erste Hilfe für die Seele zu leisten. Eine von ihnen ist Ulrike Haase. Von 16 Uhr bis Mitternacht hört sie von Schicksalen, die die Lust am Leben aufgebraucht haben - täglich in allen neun Standorten des Krisendienstes rund 80 Mal. Allein 2000 Jugendliche unter 20 Jahre wählten im vergangenen Jahr die Nummer des Krisendienstes, weil hier auch dann noch Psychologen zuhören, wenn andere Beratungen längst geschlossen sind - die Hauptberatungszeit des Krisendienstes ist abends und nachts. Jeder fünfte Anrufer denkt an Selbsttötung. Nun halten nicht alle Messer oder Tabletten bereits in der Hand. "Aber der Spruch, wer über Selbstmord redet, der tut es nicht, der ist falsch", sagt Haases Kollegin Stefanie Kunz.

Der Krisendienst-Standort "Nord" im Reinickendorfer Humboldt-Krankenhaus zeigt sich im Astkiefer-Flair eines Aufenthaltsraumes für Kita-Erzieherinnen. Zu dritt sitzen hier die Psychologinnen zusammen, reden mit gedämpften Stimmen über Allerweltsthemen. Das Telefon schweigt. Das viele Holzimitat gibt dem Raum etwas beruhigend normales. Kleine Stehlampen werfen gelbliche Lichtkegel auf zwei große Schreibtische, es riecht nach Zitronengrastee.

Es ist Nacht - die Stunden der dunklen Gedanken beginnen. Das Telefon klingelt, die gedämpfte Ruhe weicht der Anspannung. "Meine Freundin will sich umbringen." Das aufgeregte Mädchen am anderen Ende der Leitung lässt sich kaum beruhigen. Ihre Mitbewohnerin in der Zweier-WG - die 19jährige Verena S. (Name von der Redaktion geändert) - hat gedroht, aus dem Fenster zu springen, erzählt sie. Mit der Ärztin, die für solche Fälle immer bereit steht, fährt Haase zur Wohnung der beiden. Verena S. sitzt zusammengekauert in der Zimmerecke, ist kaum ansprechbar. Sie höre Stimmen, kommt es nur langsam aus hier heraus, und sie hat panische Angst. Wie sich herausstellt, hat sie den ganzen Tag Cannabis geraucht. "Drogeninduzierte Psychose" diagnostiziert die Ärztin. Haase sieht keine andere Möglichkeit, als das Mädchen noch am selben Abend in die Karl-Bonhoeffer-Klinik zu bringen.

Bei den Beraterinnen hängen Notfälle an der Strippe. Da braucht es Selbstdisziplin. Still fast, nur unterbrochen durch einige "Hm"s, hört Stefanie Kunz einem Anrufer zu. "Man muss die Leute erst reden lassen", sagt sie nach dem Telefonat. "Da hat sich oft viel aufgestaut." Erst später versucht sie, ins Gespräch einzusteigen - und weg zu kommen von den quälenden Selbstmordgedanken.

Auch wenn in der Bundesrepublik seit Jahren immer weniger Menschen Hand an sich legen - die aktuellsten gesamtdeutschen Angaben stammen aus dem Jahr 1998 und nennen 11 644 Freitode - bleiben die Zahlen für Berlin etwa gleich, schwanken um 500 pro Jahr. Doch die Experten trauen den Statistiken nicht. "Schätzungen gehen von einer fünf bis 15 Mal so hohen Dunkelziffer aus", sagt Ulrike Haase.

Es sind vor allem Männer, die sich in eine scheinbar ausweglose Lage manövrieren und dann nur noch im Tod einen Ausweg sehen. Die Statistiker registrieren kühl: Zwei Drittel der Suizid-Opfer sind männlich. "Das starke Geschlecht tut sich viel schwerer damit, um Hilfe zu bitten, sich zu öffnen", sagt Haase. Vielen ist Image wichtiger als Zufriedenheit. Also machen sie Krisen mit sich selbst aus - manche scheitern daran.

Wenn eines der Telefone klingelt, dann wartet wieder ein Schicksal auf Ulrike Haase und ihre Kollegen. "Ich rechne grundsätzlich mit allem, wenn ich den Hörer abnehme." Und das kann manchmal richtig hart werden. So vor einigen Wochen, als ein vor Furcht atemloses Kind anrief: "Da ist jemand im Haus, der mir wehtun will." Nur mit Mühe gelang es der Psychologin, die genaue Adresse von dem verstörten Jungen zu erfahren. "Natürlich fuhren wir gleich hin." Als die Helfer an dem Haus klingelten, öffnete ihnen ein erwachsener Mann. Wie sich herausstellte, war er der Anrufer. Er litt offenbar unter einer schizophrenen Störung. "Das war ein Schock", sagt Haase. "Die Kinderstimme hatte so echt geklungen."

Vor sechs Jahren, als sie anfing, hatte Haase bei jedem Telefonklingeln noch Angst zu versagen. Schließlich kann ein Menschenleben davon abhängen. Aber mit dem Risiko, dass es der Ratsuchende dann doch "tut", müssen die Psychologen leben. Sie dürfen keine Unsicherheiten zeigen. Die könnte den labilen Zustand des Anrufers noch verschlimmern. Denn wer aus Verzweiflung die Nummer des Krisendienstes wählt, der sucht Sicherheit, eine Stütze, an der er sich aufrichten kann. "Wenn es uns gelingt, die düstere Stimmung des Anrufers aufzuhellen, haben wir schon viel erreicht."

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