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Berlin: „Sie wohnen hier nicht mehr“

Eine Familie wird zum Symbol: In Kreuzberg wird die Wohnung der Gülbols zwangsgeräumt, und hunderte Menschen protestieren.

Es ist acht Minuten nach neun Uhr morgens, als Ali Gülbol vor die Haustür der Wiener Straße 13 tritt und versucht, sich mit erhobenen Armen Gehör zu verschaffen. Ein bärtiger Mann, 41 Jahre, Malermeister, Familienvater – und in diesem Moment wohnungslos. „Die Räumung ist vollzogen“, ruft er in das Gerangel, das sich Demonstranten und Polizisten vor der Tür liefern, Pfefferspray für die einen, Fußtritte für die anderen.

So sieht es aus, das Ende eines langjährigen Rechtsstreits, den sich der Vermieter André Franell, der sich auf Anfragen nicht äußert, und sein Mieter Ali Gülbol lieferten. Der fünfköpfigen Familie war gekündigt worden, weil sie eine Mietnachzahlung nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist beglichen hatte, nachdem sie mehrere Prozesse in der Sache verloren hatte. Eine erste Räumung scheiterte im Oktober, weil Anwohner und Aktivisten die Gülbols unterstützten. Damals musste die Gerichtsvollzieherin unverrichteter Dinge wieder abziehen. Diesmal nicht.

Rund 400 Beamte sind seit sechs Uhr morgens im Einsatz, sperren den Weg zum Wohnhaus der Familie in der Lausitzer Straße 8 und verschaffen sich über das Haus in der Wiener Straße 13 Zutritt zum Innenhof. Dabei zerschneiden die Beamten einen Maschendrahtzaun, wie ein Polizeisprecher vor Ort sagt, am Himmel der Polizeihubschrauber, an einer Fassade das Transparent „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“.

Bis zu 1000 Menschen beteiligen sich an den Protesten, sagt eine Sprecherin vom Bündnis „Zwangsräumung verhindern“, die Polizei spricht von 300 bis 500 Aktivisten. Sie protestieren gegen steigende Mieten und die Verdrängung ärmerer Menschen aus der Innenstadt. Familie Gülbol ist zu einem Symbol ihres Protestes geworden. Dazu dürfte auch beigetragen haben, dass „wir uns nicht versteckt haben wie viele andere Menschen, die wegen steigender Mieten ihre Häuser verlassen müssen und die Schuld dafür bei sich suchen“, sagt Gülbol. Er muss mit seiner Familie nun vorläufig in der Wohnung seiner Eltern unterkommen, sie sind Mieter im selben Haus.

Während die Proteste an der Lausitzer Straße größtenteils friedlich bleiben, kommt es bei der darauf folgenden Demonstration mehrerer hundert Menschen vereinzelt zu Sachbeschädigungen, die Polizei nimmt zehn Demonstranten fest. Schon frühmorgens brennen in der Glogauer Straße Müllcontainer. Wegen brennender Autoreifen an der Strecke der U1 wird der Verkehr in Kreuzberg in den Morgenstunden kurzzeitig eingestellt. Und am Strausberger Platz in Friedrichshain setzen Unbekannte vier Autos in Brand, die vor der Niederlassung der Allianz-Versicherung parkten. Die Polizei ermittelt, ob ein Zusammenhang zur Räumung besteht.

Aus der Politik kommt Kritik am Einsatz. Das Geld sei „herausgeschmissen“ und „an anderer Stelle viel sinnvoller einzusetzen“, sagt Paula Riester, Sprecherin der Grünen in der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg. Hakan Tas (Linke), Mitglied im Abgeordnetenhaus, will die Räumung im Parlament thematisieren. So hätten sich Polizei, Gerichtsvollzieherin und Handwerker schon vor neun Uhr – dem angekündigten Termin – an Gülbols Wohnungstür zu schaffen gemacht. „Wir werden überprüfen, ob das rechtens war“, sagt Tas, der die Räumung beobachtet hatte.

Zwei Stunden nach der Räumung in der Lausitzer Straße, der Eingang zum Haus mit einem Gitter versperrt, bewacht von einer Handvoll Beamten. Vor dem Gitter steht Ali Gülbol und darf nicht herein. Er ist verärgert, denn ein Polizist habe zu ihm gesagt: „Sie wohnen hier nicht mehr.“

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