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Berlin: Sie wollten einfach nur zusammensein

Die Geschichte zweier Jugendlicher, deren Liebe die Mauer trennte – und wie sie nach deren Fall doch noch ein Paar wurden

Markus hat gesagt: „Vielleicht funktioniert das doch mit dem Drahtseil.“ Mit einer Armbrust hinübergeschossen in den Westen, an der Ruppiner Straße in Mitte, wo das Niemandsland nicht ganz so breit war wie überall sonst, und dann nichts wie rüber. Viel zu gefährlich, fand Katja. „Wie willst du an ein so langes Drahtseil kommen?“ Sollte sie es etwa über die Grenze schmuggeln, vorbei an den Kontrollen auf dem Bahnhof Friedrichstraße?

Katja und Markus haben solche Gespräche oft geführt, in einer Zeit lange vor dem 9. November 1989, als das größte Bauwerk der Stadt noch den westlichen Teil vom östlichen trennte. Die Geschichte von Katja und Markus ist so verrückt wie die Fluchtpläne, über die sie damals fantasierten. Mädchen (West) verliebt sich in Jungen (Ost), besucht ihn immer wieder in der DDR, verliert ihn aus den Augen, trifft ihn nach der Wende wieder und lebt seitdem mit ihm zusammen. Das klingt nach einem Kitsch-Roman. Katja Hildebrand hat ihn geschrieben. Aber es ist kein Kitsch, sondern die Geschichte ihres Lebens. Das Buch heißt: „Zwischen uns die Mauer“.

Ist der 9. November ein besonderer Tag für sie? Nein, sagt Katja. Sie hat sich sogar ein wenig geärgert. Nicht, weil an diesem 9. November 1989 die Mauer fiel. Sondern weil sie so spät fiel. Hätte das alles nicht ein wenig früher passieren können? Fünf Jahre früher?

1984 war Katja Hildebrand 16 Jahre alt und fuhr mit einer Kirchengruppe aus Westfalen nach Berlin. Sie freute sich auf Kreuzberg, die alternative Szene, die Ufa- Fabrik. Das Treffen mit der Partnergemeinde im Osten war ein Pflichttermin. Die Kirche trug einen Großteil der Reisekosten, na gut, dann musste das wohl sein mit dem Ost-Besuch.

Heute unterrichtet Katja Hildebrand Englisch und Geschichte an einem Gymnasium in Neuruppin. Mit ihrem Mann und den beiden Töchtern wohnt sie in einem Reihenhaus in Hennigsdorf. Sie sitzt am Küchentisch, und wenn das gescheitelte Haar über ihre Augen fällt, wischt sie es nicht gleich zur Seite. Neben ihr sitzt Markus Ziegler, ein zurückhaltender, ein leiser Mann. Er mag sich nicht fotografieren lassen, denn „das ist die Geschichte meiner Frau“.

Markus Ziegler will sich zurückziehen, doch seine Frau sagt: „Bitte, setz dich zu uns.“ Und dann erzählt sie von früher, von den Erinnerungen, die sie so lange hat ruhen lassen. Die Gegenwart war zu schön, als dass man sich zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigen sollte. Aber – die Töchter wuchsen heran. Sie stellten Fragen: Wie war das mit der Mauer? Wie habt ihr euch kennengelernt? Also ist Katja Hildebrand zum Kleiderschrank gegangen und hat den großen Karton mit den Briefen herausgeholt.

Berlin-Mitte im Oktober 1984. Die Kirchengruppe reist über den Bahnhof Friedrichstraße ein. Das Treffen mit der Partnergemeinde findet bei einem Pfarrer in der Tieckstraße statt. Zaghaft werden erste Gesprächsfäden geknüpft, da geht die Tür auf, und Markus spaziert herein. Katja spürt, wie der Blitz in ihr Herz schlägt. Sie versucht sich zu wehren. Verlieb dich bloß nicht in einen aus dem Osten, sagt ihr vernünftiges Ich. Halt die Klappe, sagt Katja zu ihrem vernünftigen Ich.

Drei Tage lang streifen Katja und Markus durch die Halbstadt. Zum Abschied kommt Markus mit zum Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße. Katja fragt: „Wieso Tränenpalast?“ Ist doch klar, sagt Markus, „wir weinen, weil wir nicht hinüberdürfen. Und ihr heult, weil ihr uns verlassen müsst.“ Er ahnt nicht, wie viel ihrer Zukunft in diesen Worten steckt.

Ein paar Tage später kommt der erste Brief. „Ich mag dich“, schreibt Markus, „aber ich versuch’, es nicht zu doll werden zu lassen.“ Katja schreibt sofort zurück, noch schüchtern, denn „gefühlsmäßig ist bei mir ein ziemliches Durcheinander“.

Heute schreiben sich die Eheleute Hildebrand und Ziegler E-Mails. Und Briefe? Markus schüttelt den Kopf. „Manchmal kleine Zettel.“ Die Liebe ist nicht mehr angewiesen auf schriftliche Beweise.

Damals ging es nicht anders. Katjas Eltern wundern sich schon bald über die viele Post aus der DDR. Sie sagen: Kind, das hat doch keine Zukunft. Und geben doch nach, als Katja Anfang November zu einem Überraschungsbesuch nach Berlin reisen will. Zwei ältere Freundinnen kommen mit. Die Eltern wissen nicht, dass ihre Tochter in einem besetzten Haus in der Weddinger Prinzenallee wohnt. Es reicht für einen Ausflug in den Osten, einen Spaziergang mit Markus in den Wäldern rund um den Müggelsee und, endlich, den ersten Kuss. Der Abschied fällt noch schwerer als beim ersten Mal. Katja schreibt: „Ich bin auf ’nem ganz schönen Heavy-Trip. Zum Kotzen.“ Der Brief trägt als Datum den 9. November 1984.

Ab und zu richten die beiden in ihrer Korrespondenz „freundliche Grüße an die lieben Mitleser“. Ein paar Mal versucht Katja ein Telefongespräch in den Osten, doch es knackt und rauscht nur in der Leitung. „Da haben die Stasi-Typen zu lange beim Umschalten gebracht“, sagt Markus.

Im Januar 1985 weigert sich Katja, die Familie in den Ski-Urlaub zu begleiten. Die Eltern sagen: „Du willst doch nach Berlin zu diesem Markus – kommt nicht in- frage!“ Katja sagt, sie wolle nur eine Freundin auf dem Land besuchen. Natürlich fährt sie zu Markus. Das tragen ihr die Eltern bis heute nach.

Die Teenager träumen von Fluchtplänen. Könnte er nicht hinter einer Schwan-Attrappe in den Westen schwimmen? Oder wie wäre es mit einer Maskerade? Markus’ Vater genießt als Kirchenfunktionär ein gewisses Maß an Reisefreiheit. „Nimm dir doch seinen Pass und schmink dich 30 Jahre älter“, sagt Katja. Schlechte Idee, antwortet Markus, „danach wandert mein Vater sofort in den Knast.“ In Unterhaltungen wie diesen erkennt Katja, wie aussichtslos das mit ihrer Liebe ist. Zu Hause vertraut sie sich zwei, drei Freundinnen an. Hm, das klingt ganz schön kompliziert, sagt eine. Markus behält sein Geheimnis für sich.

Was bleibt, sind die Briefe. Sie werden ein wenig verzweifelter im Ton. „Ich will dich nicht verlieren“, schreibt Markus. „Obwohl’s mir manchmal unvermeidbar scheint.“ Noch einmal reist Katja zu Ostern in den Osten, aber schon die erträumte gemeinsame Sommerreise nach Rumänien scheitert. Daheim bandelt Katja mit ihrem Ex-Freund an, auch Markus verliebt sich neu. Und er muss zur Armee. Die Liebe zerbricht, es bleibt eine lose Brieffreundschaft. Katja macht das Abitur, wird schwanger, trennt sich vom Kindsvater und zieht ihre Tochter Milena alleine groß. Sie beginnt ein Studium. Markus schreibt: „Weißt du, was ich total gut finde? Es ist eine ganze Menge Freundschaft zwischen uns geblieben!“

Freundschaft, aber auch nicht mehr. Nach dem 9. November 1989 hat es keiner eilig, den anderen zu sehen. Markus lässt sich Zeit mit dem ersten Besuch im Westen, Katja schaut sich die Mauerspechte im Fernsehen an. Ab und zu denkt sie an Markus, sie schreibt eine Karte und lädt ihn ein, „mit mir mal in Amsterdam oder sonstwo einen Kaffee trinken zu gehen“. Markus wartet mit der Antwort ein paar Wochen und schlägt ein Treffen im Westen vor, er will seine Tante besuchen. Im März 1990, vier Monate nach dem Mauerfall. Viereinhalb Jahre nach dem letzten Treffen.

Katja Hildebrand lacht, wenn sie an den Augenblick des Wiedersehens zurückdenkt. „Markus hatte ganz kurze Haare. Früher hat er mir besser gefallen.“ Und doch hat sie sich nach einer halben Stunde wieder in ihn verliebt. „Bei mir hat es nicht ganz so lange gedauert“, sagt Markus. Beide trampen sie Richtung Holland, es reicht nicht ganz für Amsterdam, aber zu der Erkenntnis, dass sie es zusammen versuchen wollen.

Ein Jahr später wird die Tochter Tabea geboren. 1995 heiraten Katja und Markus, eigentlich mehr wegen der Steuern, die Liebe müssen sie sich nicht mehr beweisen. Seit ein paar Jahren wohnt die Familie am Waldrand. In Hennigsdorf, weit weg vom Großstadtleben. Katja mag nicht mehr in Berlin wohnen, „die Stadt hat sich schon brutal verändert“.

Was hat die Friedrichstraße von 2006 noch gemein mit der von 1984? Katja lief immer zu Fuß vom Grenzübergang hinunter zu Markus’ Wohnung. Heute könnte sie am Oranienburger Tor aussteigen, damals ein Geisterbahnhof, den die Züge der (West)-U-Bahnlinie 6 im Schritttempo durchquerten. Die Tieckstraße war in Katjas Erinnerung eine Aneinanderreihung grauer, schmutziger Häuser. Heute sind fast alle saniert, bis auf das alte Gemeindehaus, wo Markus mit seinen Eltern wohnte. Und die Ruppiner Straße? Markus hat sich die Stelle angeschaut, wo er damals rüber wollte, mit Armbrust und Drahtseil. „Das kam mir damals so eng vor“, es sind 300 Meter. „Ein Wahnsinn, das hätte ich nie geschafft.“

Katja Hildebrand: Zwischen uns die Mauer. Thienemann-Verlag (Stuttgart). 256 Seiten, 13,90 Euro.

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