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Berlin: Simon Ruf, geb. 1973

Niemand wusste, was es mit diesem Herzfehler auf sich hat. Es war schon einmal passiert, vor fünf Jahren.

Niemand wusste, was es mit diesem Herzfehler auf sich hat. Es war schon einmal passiert, vor fünf Jahren. Ihm war schlecht geworden, dann verzog sich das Gefühl wieder. Seitdem wusste Simon Ruf, dass sein Herz manchmal unregelmäßig schlägt. Der Arzt sagte damals, dass es harmlos wäre. Simon Ruf dachte auch diesmal, der Schwindelanfall ginge vorbei. Er gab gerade ein Seminar an der Universität in Weimar, als die Übelkeit kam. Er wollte sich kurz hinlegen. Einen Arzt lehnte er ab, dachte, ein paar Minuten, dann ist alles wieder gut. Eine halbe Stunde später kamen dann doch Notärzte, da war sein Puls schon kaum noch zu fühlen.

Er hatte noch Karten für das Madonna Konzert. Das hätte ihm Spaß gemacht, dieses Bad in der Menge, mit lauter schrägen Leuten, stundenlang "abtanzen" und sich "oberköstlich" amüsieren. Manchmal taten ihm und seinen Freunden die Wangen weh, vom vielen Lachen. So war es auch bei dem Tina-Turner-Konzert gewesen, "die reinste Gaudi". Sie mussten immer diese unglaublich schönen Beine auf der Bühne anstarren.

Simon Ruf mochte Trash jeder Art. Er sah Serien, wie "Gute Zeiten-Schlechte Zeiten", liebte Ally McBeal, diese mannlose, ausgehungerte Fernsehanwältin. Einmal verdonnerte er seine Freunde zu einem stundenlangen Ally-McBeal-Special-Abend.

Die Abende mit ihm waren meistens lang, sie endeten nicht um zwölf, auch nicht um zwei oder drei, sondern morgens um neun Uhr. Es gab Cocktails; groß, bunt und süß mussten sie sein. Manchmal veranstalteten sie "Kampftrinken", wie auf der Promotionsparty eines Freundes. Da tranken sie Weingläser in einem Zug leer. Auch mit seinem späteren Doktorvater hatte er mal ganz am Anfang, als sie sich kennen lernten, so einen Abend. Simon Ruf ließ damals den Älteren gewinnen, er dachte, es gehöre sich nicht, einen echten Professor unter den Tisch zu saufen.

Dabei war er nie Alkoholiker - er wusste zu leben. Finanziert hat er die Ausflüge mit seinen Stipendien. Simon Ruf galt ja überall als dieser außergewöhnliche junge Mann mit der überragenden Intelligenz. Der Doktorvater sagt heute: "Es war klar, dass Simon in kurzer Zeit mehr wissen würde als ich."

Intensiv wäre ein gutes Wort für ihn. Arbeit und Absturz wechselten sich ab. Simon Ruf feierte Nächte durch, dann zog er sich für Tage in Klausur zurück, und schrieb an der Doktorarbeit. Mehr als die Hälfte davon ist fertig geworden. Manchmal alberte er herum, andere Male war er der eloquente Wissenschaftler: "glasklar, null verschroben, unprätentiös und unaufgeregt", sagt eine Freundin. Der Bruder meint: "Vielleicht hat Simon in seinen 28 Jahren so viel gelebt, wie andere in siebzig Jahren."

Halbe Sachen waren nichts für ihn. Zu Schulzeiten spielte er Blockflöte, gewann den Bundespreis "Jugend musiziert" und hatte dann keine Lust mehr. Zum Entsetzen des Blockflötenlehrers. Danach kam die Geige, wieder das gleiche. Heute liegt das Stück im Wohnzimmer der Eltern. Später zog Simon nach Berlin und verließ seinen ersten Doktorvater. Er suchte sich einen anderen Betreuer. Die beiden wurden gute Freunde.

Es klingt fast zu perfekt, zu ideal - doch so beschreiben sie ihn alle. Einer, mit dem man gerne befreundet war, einer, von dem man wusste, dass er eine große Karriere vor sich hatte. In den letzten Monaten begann er gerade, sein Leben zu ordnen, konzentrierte sich auf die Arbeit, besuchte ein Sportstudio, tat etwas für seinen Rücken. Einmal, es ist noch nicht lange her, rief der Doktorvater bei ihm zu Hause an. Simon Ruf verbrachte gerade ein Wochenende mit seinen Eltern. Der Professor am Telefon konnte das kaum fassen: "Wie, du redest mit deinen Eltern?"

Den Eltern schrieb er seitenlange Briefe, was es mit seiner Wissenschaft auf sich hat, und erklärte ihnen seine Theorien. Hermaphrodismus interessierte ihn, das zweideutige Geschlecht; wie Ärzte diesen Menschen manchmal ein eindeutiges Geschlecht aufdrücken. Er kritisierte die Schwarz-Weiß-Muster, die Einteilung in Mann und Frau, dass alles, was dazwischen liegt, nichts zählt. Mit diesem Thema bekam er eine Stelle am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Da war er gerade 27 Jahre alt. Einmal erzählte Simon Ruf seinem älteren Bruder spätabends am Telefon: "Es ist das Größte, wenn man fünf Minuten mit so berühmten Professoren reden darf."

Für die Beerdigung nahm sich einer der berühmten Professoren einen Tag frei und fuhr ins Rheinland. Mehr als 300 Leute waren dort, in diesem winzigen Dorf. Aus allen Ecken der Republik kamen sie angerollt: Hamburg, München, Erfurt, Weimar, Autokolonnen aus Berlin.

Vielleicht wird jetzt noch eine wissenschaftliche Tagung zu seinen Ehren organisiert. In seiner Arbeitsgruppe widmeten sie ihm einen Abend. Auf der Internetseite des Max-Planck-Instituts gibt es einen Seitenverweis zu dem Arbeitsprojekt von Simon Ruf, und in Köln las eine Freundin einen Vortrag vor, den eigentlich er halten sollte.

Silke Becker

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