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Berlin: Sohn des sowjetischen Lagerkommandanten von Sachsenhausen übergab Gegenstände seines Vaters

Das Wort Sensation hatte Günter Morsch in seiner bisher sechsjährigen Arbeit als Gedenkstättendirektor in Sachsenhausen noch nie gebraucht. Gestern erschien es ihm aber angebracht.

Das Wort Sensation hatte Günter Morsch in seiner bisher sechsjährigen Arbeit als Gedenkstättendirektor in Sachsenhausen noch nie gebraucht. Gestern erschien es ihm aber angebracht. Denn der 63-jährige Dmitrij Kostjuchin aus Moskau übergab persönliche Dokumente, ein Gemälde, Fotografien, Ausweise und zahlreiche Gegenstände aus dem Besitz seines Vaters. Der war zwischen 1945 und 1950 Kommandant des Speziallagers Nummer 7 des sowjetischen Geheimdienstes NKWD in Sachsenhausen. "Da wir nur über wenige Gegenstände aus dieser Zeit verfügen, ist die heutige Übergabe ein Glücksmoment für uns Historiker", sagte Morsch. "Nun können wir den bisherigen Mangel an Anschaulichkeit dieser Lagerzeit in einem gewichtigen Maß beseitigen."

Bestimmt sind die Dokumente für ein neues Museum über das größte Speziallager in der Sowjetischen Besatzungszone, das der Geheimdienst innerhalb und außerhalb des faschistischen KZ errichtete. Im vergangenen Jahr war ein internationaler Architektenwettbewerb über den Museumsbau abgeschlossen worden. Der Siegerentwurf wird noch in diesem Jahr verwirklicht, so dass 2001 mit der Eröffnung des Museums gerechnet wird.

Die Argumente für das Wort von der Sensation lieferte Dmitrij Kostjuchin gestern selbst. Obwohl er als Junge vier Jahre mit seiner älteren Schwester und seinen Eltern im Kommandantenhaus des Lagers wohnte, wusste er nichts über die Hintergründe. "Nur zweimal habe ich mehr durch Zufall einen Blick in den Lagerhof werfen können", sagte der heute noch als Flugzeugingenieur arbeitende Kostjuchin. "Einmal sah ich vier Personen und einige Wachleute auf der Pritsche eines Lastwagens, ein anderes Mal Männer beim Fußballspielen. Doch mein Vater erzählte uns nichts über seine Arbeit. Auch später schwieg er beharrlich über die Zeit in Deutschland."

Dieses Schweigegebot über die Lager betraf nicht nur die sowjetischen Wachmannschaften. Auch die Inhaftierten selbst sprachen erst nach der Wende über ihre teilweise traumatischen Erlebnisse in den Lagern. Bis 1990 war das Gelände im Nordosten Oranineburgs ein Truppenübungsplatz der NVA und somit nicht zugänglich.

Die Familie des Lagerkommandanten wurde durch die Mitarbeitern der Gedenkstätte Natalja Jeske ausfindig gemacht. "Wir arbeiten schon lange Zeit mit dem Staatsarchiv der Russischen Föderation zusammen. Als wir nach der Personalakte von Major Kostjuchin fahndeten, stand darauf noch eine Moskauer Adresse." Der Zufall half, denn in dem Haus des inzwischen verstorbenen Lagerchefs wohnte noch seine Familie. Nach vielen Gespächen habe sich Dmitrij Kostjuchin bereit erklärt, die Erinnerungen an seinen Vater dem künftigen Museum in Sachsenhausen zu überlassen, berichtete die Historikerin.

Darunter befinden sich eine Quittung über den Kauf eines Opel Kadett, eine Schreibtischgarnitur, ein mit Bildern ausgeschmücktes Arbeitsbuch sowie ein von Häftlingen angefertigtes Gemälde. In Kürze sollen auch die originalen Möbel aus dem Kommandantenhaus aus Moskau in Sachsenhausen eintreffen. Einige Fotos geben beispielsweise Auskunft über das tatsächliche Aussehen des Konzentrationslagers. So hatten sich die Kommandanten während der NS-Zeit einen Teich mit Enten und Schwänen sowie einen kleinen Zoo in ihrem Revier anlegen lassen. "Eindrucksvoller könnte der Gegensatz zwischen Idylle auf der einen Seite und Quälerei und Sterben auf der anderen kaum sein", kommentierte Direktor Morsch. Dieser künstliche See bestand auch noch zu Sowjetzeiten, wie die Aufnahmen jetzt beweisen.

Dmitrij Kostjuchin, der von seiner Frau Lydia bei seinem ersten Deutschlandbesuch begleitet wird, möchte seine übergebenen Dokumente auch als Mahnung verstehen. "Ich hoffe, dass nie wieder Unschuldige in so ein Lager kommen werden", sagte er. In seiner Heimat sei das Geschehen in Deutschland nach Ende des Krieges genauso wenig bekannt wie früher in der DDR.

In Kürze erscheint ein erster Band über den Stand der Forschungsarbeiten deutscher und russischer Wissenschaftler zu den nach 1945 eingerichteten Speziallagern. Dann wird auch dieser bisher weiße Fleck in der Geschichte beider Länder getilgt. Doch die Dokumente von Kostjuchins Familie bergen schon den Stoff für ein neues Buch. Ste.

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