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Berlin: Sound der urbanen Utopie

Klänge, Bilder? Sind immer gleich exotisch. Egal, eins ist Konsens: Jedes Pfingsten feiern Hundertausende gemeinsam Karneval der Kulturen

Die Andersartigkeit dieses Tages ist um das Handgelenk eines dreijährigen Jungen geknotet, sie schwebt zwischen den Köpfen seiner Eltern. Ein grüner Luftballon, mit Helium gefüllter A-100-Protest, darauf in schwarzer Schrift: „Die Straßen nur zum Tanzen.“ Es klingt hier in Kreuzberg jedoch wie ein Befehl, wie ein Gesetz für einen Tag, an dem die Gesetzmäßigkeiten in bunten Farben verlaufen.

Hinter Karstadt am Hermannplatz beginnt die Ausweitung der Tanzzone. Es ist kurz vor halb eins am Pfingstsonntag. Die Sonne hängt als gleißendes Fünfmarkstück an einem makellosen Himmel. Sie spiegelt sich in den Kronen der Sambaköniginnen, die ganz oben auf dem ersten Wagen den Rhythmus vorgeben, das Einsingen der Straße lenken. Zu ihren Füßen beben die Trommeln. Ein Dröhnen, militärisch, an einem anderen Ort bedrohlich, hier aber, von einem Zuckerhutlächeln überzogen, eingebettet in die Stimmen der beiden Frauen, die ekstatische Basslinie für das Kostümfest der Kulturen, mit dem Kreuzberg seit 16 Jahren sein ganz eigenes Pfingsten feiert.

Dabei funktioniert das Ganze vor allem als Wiederaufführung des Immergleichen. Wie in jedem Jahr löst sich der Zug um 12 Uhr 30 aus seinem tobenden Stillstand, schwappt, mit dem Generalstab dirigiert, pünktlich durch Kreuzberg. Die Samba-Tänzer, die Trommler von „Afoxé Loni“ führen die Karawane, so wie sie es fast immer getan haben seit Beginn des Karnevals. Es ist ihre Abschiedsvorstellung, bevor sie sich nach 15 Jahren zurückziehen. 2012 werden zumindest ihre Trommeln schweigen, als Kritik an der ausufernden Kommerzialisierung des Karnevals, bei dem die Künstler zunehmend in den Hintergrund rücken. Heute aber sind sie noch einmal die Vortänzer des Spektakels, das Lächeln exotische Schminke, dick aufgetragen.

Dahinter reihen sich die anderen Wagen, gut 90 sind es diesmal, fast 5000 Artisten aus 70 Nationen in diesem Zirkus unter freiem Himmel. Ein streng durchchoreografierter Spielmannszug, der auf einem Soundteppich gleitet, in den wie selbstverständlich lateinamerikanische Tradition, E-Gitarrenriffs und elektronische Beats verwoben werden. Meerjungfrauen an Position 48, neben Amazonen, unter Stelzenmenschen. Dazu mexikanische Rasseln wie das Zischen einer gigantischen Klapperschlange. Bekannte Klänge, noch bekanntere Bilder.

Auch wenn sich das Panorama in Nuancen verändert, die Kostüme, die Themen andere, einige der Gruppen das erste Mal dabei sind, lebt das Gesamtbild des Karnevals von einem angenehmen Wiedererkennungseffekt. Die Besucher an der Strecke wissen, was sie erwartet. Sie sind genau deshalb gekommen. Ein bisschen Rio, eine Prise Straßentheater. Und weiter hinten die Wagen der Techno-DJs, Rudimente der Liebesparade. Es ist das Welttheater als ritualisierte Aufführung. Aber vor allem wieder ein Konsens-Fest. Der Karneval der Kulturen ist, auch diesmal, wie immer, eine Parade für alle. Junge Mütter schieben geschmückte Kinderwagen durch das Meer zuckender Körper. Der Besuch in der Masse als Familienausflug. Ein älterer Herr, der Schnurrbart elegant gezwirbelt, die Uniform adrett, der Chrompickel auf der Haube poliert, ergibt sich in die Umarmung eines jungen Mannes, unter dessen blonden Dreadlocks Handabdrücke auf der nackten Brust schimmern. Zuckmayer trifft Dr. Motte. Weil hier die Zuschauer gleichsam Resonanzkörper und Selbstdarsteller sind.

So erlaubt der Karneval für ein paar Stunden einen Blick auf Berlin durch das Brennglas der Verdichtung. Alles ist nah beieinander, das Kiezläuferprojekt im Windschatten wehender Tuhguhs aus Kamerun, ein Panoptikum der Multikultur, die, in diesem Moment, greifbar, hörbar wird. Und sich zudem als endloses Büfett durch die Straßen zieht. Öl in großen Pfannen, Halloumi in Erdnusssoße, lange Schlangen für Delikatessen aus Ghana. Marktschreier-Atmosphäre.

Dass der Karneval dabei an seinen Rändern eine Kirmes ist, eine Fressmeile, auf der Konsum in fettigen Schalen und Plastikbechern serviert wird, auch das gehört dazu. Weil die Trennlinie zwischen Völkerfest und Volksfest zwangsläufig dünn ist. Sie gehen schunkelnd Hand in Hand.

Als die ersten Wagen jedoch die Yorckstraße erreichen, die Luft längst schwer von Alkohol und Schweiß, die erste Schminke verlaufen, leuchtet die eigentliche Idee des Karnevals noch einmal gut sichtbar auf einem Banner: „Ohne Egoismen könnten wir in jedem Volk Wurzeln schlagen.“ Dahinter hebt die Musik von Neuem an. Ist nun überall. Der Soundtrack dieser Inszenierung einer kleinen urbanen Utopie, in der alle mit allen tanzen, weil ihnen, für einen Tag zumindest, die Straße gehört.

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