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© Thilo Rückeis

Sozialgericht: Bürger gegen Behörde: Urteile im Stundentakt

Mehr als 2000 Hartz-IV-Empfänger verklagen monatlich ihr Jobcenter, 1000 von ihnen gewinnen. Zwei Tage aus dem Berliner Sozialgericht in Mitte.

Die „Hartz-IV-Kurve“ des Berliner Sozialgerichts weist seit Monaten steil nach oben. Im Oktober gingen mehr als 2000 neue Klagen ein, ein neuer Rekord. 52 der 80 Richter am größten deutschen Sozialgericht sind vorwiegend mit dem komplizierten Regelwerk um Hartz IV beschäftigt. Die mittlere Verfahrensdauer ist auf ein Jahr angewachsen, die Tatbestände liegen oft zwei Jahre zurück. 80 Prozent der Fälle werden ohne Urteil abgeschlossen, oft kommt es gar nicht erst zu einer Verhandlung. Immer dann, wenn Bearbeitungsfehler zu offensichtlich sind, reicht ein Telefonanruf im Jobcenter, sagt eine Richterin.

Das Sozialgericht ist der Reparaturbetrieb einer überforderten Sozialbürokratie. Bisher verlieren die Jobcenter jeden zweiten Fall, aber die Behörden holen langsam auf. Bei den Eilfällen liegt die Erfolgsquote nur noch bei 40 Prozent. Manchmal sitzen auch nur Frustrierte vor Gericht oder Naive, die hoffen, einen barmherzigen Richter zu finden, der ihnen den harten Alltag etwas erleichtert. Wir haben uns in den Sälen der Invalidenstraße umgesehen.

Verloren – kein Härtefall. Neun Uhr. Die 94. Kammer des Sozialgerichts tagt in einem kleinen Eckzimmer. Brauner Linoleumboden, Tische mit Furnierblenden, ein Computerbildschirm, ein Drucker, sechs Besucherstühle, die fast immer leer bleiben. Es gibt hier keine Mörder oder Hochstapler zu beobachten, nur bedrückte Menschen am Existenzminimum. Richterin Birgit Längert hat die Uhr im Blick. Sieben Fälle bis 13 Uhr, das müsste zu schaffen sein. Während den Verhandlungen tippt sie schon das Beschlussprotokoll in ihren Computer. Am Ende fragt sie meistens: „Wollen Sie wirklich ein Urteil?“ Wie es ausfallen würde, können sich die Beteiligten schon denken. Sie verzichten.

Die 30-jährige Biologiestudentin Jeanette Mastur trägt hochhackige Schuhe und einen Strickpulli. Sie ist aufgeregt, will es nicht vermasseln. Vor einem Jahr stellte sie einen Antrag auf Hartz IV, weil sie kein Bafög mehr bekam und ihre schwerkranke Mutter pflegen muss. Das Jobcenter lehnte ab. Mastur sagt, sie könne ihr Examen nur machen, wenn sie eine Pflegekraft für ihre Mutter bezahlen kann. Sie sei ein Härtefall, doch die Richterin sieht das anders. Um als Härtefall anerkannt zu werden, müsse schon ein konkreter Prüfungstermin vorliegen. Bisher scheute die Studentin aber wegen ihrer unsicheren Lage genau davor zurück. Sie hat sich eine Anwältin genommen, doch die kann auch nichts mehr retten. Jeanette Mastur ist einverstanden, ihre Klage zurückzunehmen. Sie will es nochmal beim Bafög-Amt versuchen.

Gewonnen – Miete wird nachgezahlt. Ein anderer Tag, ein anderer Raum. Diesmal sind zehn Streitfälle zu klären. Richter Peter Hagedorn beginnt munter, lacht ausgelassen. Kurz vor 14 Uhr ist er erschöpft vom vielen Reden, Aktenwälzen und Kopfrechnen. Er hat seinen Taschenrechner vergessen.

Der arbeitslose Speditionskaufmann Volkmar Sattelberg-Geißler, 52 Jahre alt, lebt in einer Zweizimmerwohnung im Märkischen Viertel. Die Miete kostet 518 Euro, das Jobcenter wollte aber maximal 351 Euro bezahlen. Volkmar Sattelberg-Geißler legte Widerspruch ein, die Widerspruchsstelle des Jobcenters wies diesen ab, einige Monate später wurde die erhöhte Miete dann überraschend doch bewilligt und eine Woche später die Bewilligung widerrufen. Richter Hagedorn wischt mit einem Anflug von Amüsiertheit die Jobcenter-Bescheide als durchweg fehlerhaft vom Tisch. Schon deshalb werde er der Klage stattgeben. Sattelberg-Geißler kann sich über eine Nachzahlung freuen. In Zukunft bekommt er jedoch nur noch 351 Euro für die Unterkunft. Der 52-Jährige will trotzdem nicht ausziehen. Im März 2008 soll sein Mitbewohner aus der Haft entlassen werden. Dann können sie sich die schöne Wohnung wieder leisten.

Gewonnen – Trinkgeldpauschale zu hoch. Als Friseur-Azubi verdiente Jessica Spiering 285 Euro im Monat. Zusätzlich bekam sie Geld vom Jobcenter. Ihr Sachbearbeiter zog allerdings pauschal ein Trinkgeld von 50 Euro von den Zahlungen ab. Dagegen klagte Jessica Spierung. „Ich habe damals nur schamponiert.“ Außerdem war sie lange krank. Richter Hagedorn hat sich beim Arbeitgeber erkundigt und schlägt vor, ein Trinkgeld von 17,50 Euro pro Monat anzusetzen. Die Frau vom Jobcenter ist einverstanden. Jessica Spiering erhält eine Erstattung von 122 Euro. Die Friseurausbildung hat sie inzwischen abgebrochen. Jetzt lernt sie Konditoreifachverkäuferin. Das Azubi-Gehalt reicht auch diesmal nicht zum Leben.

Verloren – keine getrennten Betten. Monika Lange (Name geändert), um die 40, ist arbeitslose Verkäuferin. Vor zwei Jahren beantragte sie Hartz IV, doch das Jobcenter lehnte ab. Ihr Lebenspartner verdiene genug Geld für beide. Frau Lange erklärte daraufhin, es bestehe keine „eheähnliche Gemeinschaft“ und klagte. Richter Hagedorn lässt sich den Werdegang der Beziehung schildern. „Kennengelernt haben wir uns bei meinem Nachbarn. Das hat sich denn so erjeben.“ 1996 zogen sie zusammen, „um Kosten zu sparen“. Hagedorn: „War der Grund nicht auch, weil sie ein Paar sind?“ Frau Lange zögernd: „Joa.“ Hagedorn: „Gibt es ein gemeinsames Schlafzimmer?“ Frau Lange: „Ja, aber zwei jetrennte Schränke.“ Hagedorn kommt zum untrüglichen Ergebnis, dass durchaus eine eheähnliche Gemeinschaft besteht, zumal Frau Lange ihren Partner inzwischen geheiratet hat.

Verloren – Kein Zuschlag fürs Kino. Der ehemalige Mathelehrer und Versicherungsagent Christian Müller, seit acht Jahren arbeitslos, möchte Zahlungen an eine private Krankenversicherung vom Jobcenter erstattet bekommen. Außerdem fordert er insgesamt mehr Geld – „347 Euro plus Auto plus Kosten für ein angemessenes kulturelles Leben“. Er möchte auch mal ins Kino gehen und sich was Neues zum Anziehen kaufen. Richterin Längert erklärt, für einen formgerechten Klageantrag müsse er schon eine genaue Summe nennen. Müller überlegt und sagt dann: 600 Euro. Allerdings geht es in der Klage nur um den Zeitraum von Juli bis September 2005. Müller, der gerade noch mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gedroht hatte, verlässt der Mut. „Das ist doch erledigt. Mein Geld bekomme ich sowieso nicht.“ Nach einem hitzigen Meinungsaustausch über den Gegenwert von Menschenwürde, das nötige Kleingeld im Steuersäckel und wer’s nachher kriegt, tippt Längert die Bilanz der mündlichen Verhandlung in ihren PC: „Im Hinblick auf die geringe Erfolgsaussicht nimmt der Kläger die Klage zurück …“ Müller wirkt zufrieden. Er hat etwas erreicht. Eine halbe Stunde Aufmerksamkeit.

Unentschieden – Rückzahlung gesenkt. Das Ehepaar W. – er ist Schlosser, arbeitet manchmal auf Montage, sie ist arbeitslos – soll Hartz-IV-Gelder zurückzahlen, rund 1300 Euro. W. hatte für ein paar Wochen einen Montagejob, verdiente gut und bekam trotzdem weiter Arbeitslosengeld II. Nun ist W. aber ein ehrlicher Kerl. Er wies das Jobcenter mehrfach auf seine bezahlte Arbeit hin, das Amt reagierte aber erst Monate später. Zusätzlich leistete man sich einen Tippfehler: Statt 1300 Euro wurden nur 301 Euro zurückverlangt. Die Richterin spricht von „gebrochenem Vertrauensschutz“, blickt auffordernd zur Jobcenter-Frau. Die hat den Wink verstanden. „Wir wären mit einer Zahlung von 301 Euro einverstanden.“ Man schließt einen Vergleich.

Verloren – keine Zulage für Ernährung. Die zierliche Frau im warmen Strickpulli leidet an Bulimie und Borderline-Syndrom. Zeitweise wog die 31-jährige Kathrin Werner (Name geändert) nur 39 Kilo. Ihre Ausbildung hat sie wegen der psychischen Krankheit abgebrochen. Früher bekam sie Geld vom Sozialamt, inklusive einem Zuschlag für erhöhte Ernährungskosten. Das Jobcenter lehnte diesen Zuschlag ab. „Ich würde gerne drei Kilo zunehmen, um stabiler zu werden“, sagt Frau Werner. Richter Hagedorn lässt sich ihre Krankheitsgeschichte erzählen. Nach kurzer Beratung weist er die Klage ab. Die Krankheit sei auch mit normaler Ernährung zu bewältigen.

Unentschieden – Bescheide fehlerhaft. Kfz-Fachmann Waldemar Krause, ein bedachtsam auftretender Mensch, erhielt im Sommer 2005 einen Existenzgründungszuschuss von der Bundesagentur für Arbeit. Der Zuschuss wurde vom Jobcenter nicht auf seine Hartz-IV-Leistungen angerechnet. Einige Monate später änderte das Amt seine Meinung und verlangte Geld zurück, zunächst 2099 Euro. Nach einem Briefwechsel sanken die verlangten Summen bis auf 884 Euro. Jedesmal wird anders gerechnet. Die Frau vom Jobcenter argumentiert, Krause habe dem Amt Informationen vorenthalten, aber die Richterin liest aus den Akten das genaue Gegenteil heraus. Sie regt einen Vergleich an: Das Jobcenter verzichtet auf die Rückforderung, Krause auf weitere Klagen wegen fehlerhafter Bescheide. Die Frau vom Jobcenter ist jetzt ziemlich sauer, lässt eine Akte auf den Tisch krachen. Sie wollte diesmal ein Urteil haben, und zwar zu ihren Gunsten.

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