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Necla Kelek lebt und arbeitet als Sozialwissenschaftlerin und Publizistin in Berlin. Seit 2012 betreut sie ein Kooperationsprojekt des Vereins Terre des Femmes im Südosten der Türkei.

© Cyril Schirmbeck/promo

Soziologin Necla Kelek: „Zwangsehen werden bei uns Alltag“

Die Soziologin Necla Kelek spricht im Interview über erzwungene Heirat, das Kopftuchverbot für Berliner Lehrerinnen und die Schizophrenie der politischen Linken.

Frau Kelek, dass Sie studieren konnten, haben Sie offenbar vor allem Ihrem Aussehen zu verdanken. Wären Sie nämlich hübscher gewesen, soll Ihre Mutter einmal gedroht haben, wären Sie wie ihre Schwester früh verheiratet worden. Stimmt das?

Ja, das hat sie tatsächlich gesagt. Um die Familien der heiratswilligen Männer anzulocken, muss man jung, schön und keusch sein – da hat meine vergleichsweise große Nase gestört (lacht).

Was macht das mit einem, wenn die eigene Mutter lediglich eine Braut in einem erkennen mag – eine Ware für den Hochzeitsmarkt sozusagen?
Ach, es war nicht so böse gemeint, wie es klingt. Meine Mutter war eigentlich eine sehr liebevolle Frau.

Sie mussten also nicht mit der latenten Angst leben, irgendwann zwangsverheiratet zu werden?
Nein, überhaupt nicht. Meine Mutter ist selbst zwar nicht zur Schule gegangen, hat aber ein modernes Leben der bildungsnahen Schichten geführt – und da waren arrangierte Ehen oder gar der Zwang zur Ehe verpönt. Aber ihr war es dennoch wichtig, dass ihre Töchter irgendwann gut verheiratet werden – da war sie bürgerlich traditionell. Mit den strengen islamischen Traditionen kamen wir erst in Berührung, als wir Istanbul verlassen haben und nach Deutschland gezogen sind. Viele unserer Bekannten waren religiös, und meine Mutter begann, sich um den Ruf unserer Familie zu sorgen.

Wovon sah sie den Ruf bedroht?
Durch unseren westlichen Lebensstil. Obwohl wir weiterhin säkular lebten, mussten wir nach außen hin den Anschein einer traditionsbewussten Familie wahren. Abends mit Freundinnen treffen, in eine Diskothek zu gehen oder auch nur deutsche Freunde zu haben – all das durfte ich nicht.

Klingt nach schweren Zeiten.
Es gab eben eine sehr strenge soziale Kontrolle in der türkischstämmigen Gemeinschaft, wie auch heute noch. Und mit Zwang zur Ehe, typisch nach islamischem Familienrecht, arrangierten Ehen, manchmal aber auch Zwangsehen, wurde diese restriktive Gemeinschaft am Leben gehalten. Alle meine Freundinnen von damals sind verheiratet worden – und übrigens nicht nur sie, auch die Jungen wurden verheiratet. Das war damals ganz verständlich.

Offensichtlich bis heute: Ihr Verein Terre des Femmes zeigt derzeit in einer Ausstellung Bilder, die türkische Kinder zum Thema „Zwangsheirat“ und „Kinderbräute“ gemalt haben. Auf einer Zeichnung ist ein Mädchen zu sehen, das mit Teddybär in einem Käfig sitzt – das Leben im Käfig, wie häufig ist das noch Realität in der Türkei heutzutage?
Das kommt darauf an, wohin man reist: die Türkei ist ein gespaltenes Land. Ein Teil der Gesellschaft ist noch immer von Kemal Atatürk laizistischen Ideen geprägt, mit Recht auf ein selbstbestimmtes Leben ohne religiöse Kontrolle, und sie lebt dementsprechend säkular. Vor allem aber im Osten und Südosten des Landes, in den kurdisch-sunnitischen Regionen, gehört der Zwang zur Ehe zur Tagesordnung. Selbst Mädchen im Kindesalter werden dort mit erwachsenen Männern, manchmal sogar aus der eigenen Familie, verheiratet. Das Problem der Verwandtenehe, Kinderehe und auch Polygamie gehört zum Alltag der Mädchen und Frauen.

Und der Gesetzgeber sieht tatenlos zu?
Offiziell ist Zwangsverheiratung auch in der Türkei verboten, die arrangierte islamisch religiöse Ehe aber nicht – auch nicht nach dem islamischen Ritus, also vor dem 14. Lebensjahr. Und man kann sich denken, welche Entscheidungsmöglichkeiten ein Kind hat, wie groß der Druck sein muss, wenn ein zwölfjähriges Mädchen vor der Entscheidung steht, entweder verheiratet zu werden oder von der eigenen Familie verstoßen zu werden.

Die Zwangsverheiratung ist allerdings kein Phänomen, das auf Ostanatolien beschränkt wäre: Der „Berliner Arbeitskreis gegen Zwangsverheiratung“ ging für das Jahr 2013 davon aus, dass es allein in der Hauptstadt 460 Fälle von Zwangsverheiratung gab …
… so ähnlich dürften die Zahlen auch dieses Jahr liegen – und die Dunkelziffer noch weitaus höher. Mit den neuen geflüchteten Menschen aus arabischen Ländern wird die Tradition der Zwangsverheiratung auch bei uns Alltag werden.

Im Mai hat der Bundestag Ehemündigkeit auf 18 Jahre heraufgesetzt, um Kinderehen zu verhindern. Widerstand kam damals von der Linkspartei und den Grünen: von Parteien also mit traditionell feministisch-progressiven Überzeugungen. Hat Sie der Widerstand verwundert?

Ganz und gar nicht. Bei dem Thema haben wir bei Terre des Femmes seit Jahren auch gegen Widerstände aus diesem politischen Milieu kämpfen müssen. Das ist eine traurige Realität: Die deutsche Linke fordert zwar seit Jahren, dass die Gesellschaft bunter und vielfältiger werden soll. Sie übersieht dabei aber, dass in den Gruppen, die das Land bunter machen sollen, Menschenrechte permanent verletzt werden, besonders auf Kosten der Mädchen und Frauen. Eine offene, tolerante Gesellschaft wünsche ich mir auch, aber keine, in der Mädchen zwangsverheiratet werden und ein Kopftuch tragen.

Die ehemalige Landeschefin der Grünen, Bettina Jarasch, hat gewarnt, einen „Kulturkampf um das Kopftuch zu führen“, und deshalb gefordert, dass Lehrerinnen mit Kopftuch an Berliner Schulen unterrichten können – bislang verbietet das Neutralitätsgesetz das. Halten Sie das für einen richtigen Schritt in der Integrationspolitik?

Ein Blick in jedes beliebige islamisch geprägte Land reicht um zu sehen, dass die Verschleierung dort einzig ein Instrument ist, um Frauen zu marginalisieren und auszugrenzen. Als Frau möchte ich mich den Männerblicken aber nicht beugen und werde auch meinen Körper nicht verstecken. Wenn eine Politikerin in Berlin Frauen dazu ermutigt, sich zu verschleiern und die Verschleierung per Gesetz sogar legitimieren möchte, sendet das ein katastrophales Signal aus. Es ist geradezu schizophren, wenn deutsche Feministinnen die Freiheit in Deutschland auskosten und am Baggersee nackt ins Wasser springen, es dann aber befürworten, wenn muslimische Frauen einen Ganzkörperkondom überziehen sollen, bevor sie planschen gehen.

Woher kommt diese „Schizophrenie“?
Ich kann nur mutmaßen. Es scheint, als würden viele von ihnen Muslime ausschließlich als Opfer des weißen, kapitalistischen Westens erkennen wollen, die man mit westlichen Werten nicht überfordern solle, weil sie arm sind. Dabei wird vergessen, dass auch in reichen muslimischen Ländern wie Saudi-Arabien Frauenunterdrückung fester Teil des Systems ist. Andererseits gibt es den Hang der Europäer, die Kultur und Gesellschaften des Orients romantisch zu verklären. Das trägt dann bisweilen rassistische Züge.

Ihre Kritiker mahnen derweil, dass Ihre Forderungen nach einem Kopftuchverbot von Rassisten missbraucht würde ...
Ach, mir wird schon seit Jahren vorgeworfen, dass ich mit meiner Meinung die Rechte stärken würde. Aber das hat mich nie bekümmert, ich bin nicht rechts. Säkularität und Freiheit waren schon immer auch linke Anliegen. Ich bin eine Frauenrechtlerin und habe ein Gerechtigkeitsempfinden – das ist ein Unterschied.

Die Ausstellung

Die Statistik spricht eine deutlich und zugleich traurige Sprache: Zwangsheiraten sind keineswegs Einzelfälle. Weltweit werden 28 Mädchen pro Minute minderjährig verheiratet – in der Türkei geht nach Schätzungen des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen Unicef fast jede dritte Frau vor ihrem 18. Lebensjahr in die Ehe. Was junge Frauen und Männer in der heutigen Türkei über Früh- und Zwangsverheiratung denken, zeigt "Terre des Femmes" aktuell in einer Bilderausstellung im Frauenzentrum Affidamento in Berlin-Neukölln (Adresse: Richardplatz 28, 12055 Berlin) - noch bis 11. Februar. „Die Bilder erstaunen auf zweierlei Weise“, sagt Birgitta Hahn, bei Terre des Femmes für Internationale Zusammenarbeit zuständig. „Einerseits wegen ihrer künstlerischen Qualität, andererseits, weil sie ein starkes Unwohlsein hinterlassen. Das liegt an den Widersprüchen, die sie sichtbar machen: fröhliche Bräute laufen in einen mit Luftballons geschmückten dunklen Tunnel. Das rote Taillenband des Brautkleids wird zur entmündigenden Augenbinde. Das Ausmaß einer Frühverheiratung ist den Schülern trotz ihre jungen Alters sehr bewusst." Ausgestellt sind 21 Kunstwerke von Schülerinnen und Schülern zwischen acht und 16 Jahren aus dem südosttürkischen Van. Sie sind im Rahmen von Malwettbewerben entstanden, die Yaka-Koop, eine türkische Partnerorganisation von Terre des Femmes, seit 2013 jährlich ausrichtet.

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