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Spandau

© Spiekermann-Klaas

Spandau: Gefährdete Randlage

Spandau bei Berlin, das war einmal. Längst haben die Großstadtprobleme den fernen Westen erreicht, die soziale Lage ist gespannt.

Das Spandauer Idyll beginnt gleich hinter den Hochhäusern. Am Großen Spektesee, einem Kiesteich in Fußwegnähe des Falkenhagener Feldes. Bäume, Gräser und Schilf säumen das Ufer. Ein Landregen hat den Spazierweg und die kleine Holzbrücke überschwemmt. Ein paar Enten stillen ihren Durst. Hinter der Brücke macht der Weg eine Biegung. Auch hier wird getrunken. Zehn, zwölf Männer stehen vor einer Bank, Bierflaschen klirren, die Männer reden über eine Polizei-Razzia und dass der Schnaps schon wieder teurer geworden ist, „schöne Scheiße!“ Es ist kurz vor elf Uhr am Vormittag.

Nicht nur am Großen Spektesee liegen Idyll und Elend eng beieinander. Immer mehr alteingesessene Spandauer sorgen sich, dass ihr Bezirk in Schieflage geraten könnte. Das ländliche Ambiente mit viel Wasser und Grün verträgt sich schlecht mit den Nachrichten, die vermehrt aus Spandau kommen. Ein Auszug aus dem Polizeibericht der jüngeren Vergangenheit: An einer Bushaltestelle in der Beyerstraße wird ein junger Mann erstochen. Auf dem U-Bahnhof Siemensdamm verprügelt ein Neonazi einen Angehörigen der linken Szene. An der Seegefelder Straße greifen vier Jugendliche einen schwarzen Amerikaner an. Auch der eben erschienene Sozialstrukturatlas der Stadtentwicklungsverwaltung zeichnet ein düsteres Bild von Großsiedlungen wie dem Falkenhagener Feld. Ist das wirklich Spandau? Das Dorf hinter den sieben Bergen, von dem man immer dachte, dass die Welt dort noch in Ordnung ist?

In Spandau ist Berlin so weit westlich, wie es westlicher nicht geht. Es gibt Leute, die sagen, Spandau sei noch westlicher als Berlin. Spandau bei Berlin. Urkundlich wird die Siedlung an der Havel schon im Jahr 1232 erwähnt, fünf Jahre früher als Berlin. Die Spandauer waren immer stolz darauf, anders zu sein. Stolz darauf, nur ein bisschen dazuzugehören zur großen Stadt. Man muss diese Vorgeschichte kennen, um den Schock nachzuvollziehen, der das offizielle Spandau vor einem halben Jahr traf. Im April 2007, als der neue Sozialstadtrat Martin Matz (SPD) erhebliche soziale und gesundheitliche Probleme diagnostizierte. Matz legte Spandau nahe, sich nicht wie früher an Zehlendorf oder Reinickendorf zu orientieren, sondern besser an Friedrichshain-Kreuzberg oder Neukölln. Neukölln! Das offizielle Spandau hielt erst den Atem an, dann beschimpfte es den Stadtrat als Nestbeschmutzer, als einen, der sich auf Kosten anderer profilieren wollte. Der Spandauer CDU-Chef Kai Wegner warf Matz vor, er würde den Bezirk „populistisch schlecht reden“.

Martin Matz ist 42 Jahre alt, er war mal Vorsitzender der Berliner FDP und ist 2005 in die SPD eingetreten. Matz kommt aus Bremen, wohnt in Lichterfelde und gibt gern zu, „dass Spandau auch in meiner Vorstellung immer eine verträumte Vorstadt war“. Weihnachtsmarkt, Zitadelle, Havelufer. Schön findet er Spandau immer noch. „Aber ich habe schnell gemerkt, dass der Schein trügt.“

Das war ein paar Wochen nach den Kommunalwahlen im September 2006, als ihm die SPD das Amt des Sozialstadtrats angetragen hatte. Matz sagte zu und tat, was man so tut als neuer Behördenchef. Akten lesen und Zahlen studieren. Die Zahlen waren bekannt, und der neue Stadtrat wunderte sich ein wenig, dass sich vorher niemand im Rathaus dafür interessiert hatte. Matz hakte nach, er machte Besuche, führte Gespräche und legte nach 150 Tagen im Amt eine für Spandau wenig schmeichelhafte Bilanz vor: Arbeitslosigkeit, Selbstmordrate und Überschuldung lagen weit über den Berliner Durchschnitt, dafür gab es ein unterdurchschnittliches Bildungsniveau. Die Conclusio des Zugezogenen: „Unser schönes Spandau hat schwerwiegendere soziale Probleme, als dies hinnehmbar ist.“

Das ist freundlich formuliert, für Felix eine Spur zu freundlich. „Spandau ist gekippt“, sagt Felix. Er ist Student, 26 Jahre alt und wohnt seit seiner Geburt im Falkenhagener Feld, einer Trabantenstadt, die in den sechziger Jahren entlang der Falkenseer Chaussee in den Himmel wuchs. 25 000 Spandauer wohnen hier in anonymen Wohngebirgen. Felix sagt, das Falkenhagener Feld sei noch nie eine Mustersiedlung gewesen, „gab schon öfter mal Stress mit türkischen Gangs oder Arabern“, aber nicht mehr als in anderen Berliner Stadtteilen. „Viel schlimmer ist, dass hier in den neunziger Jahren so viele Familien weggezogen sind.“

Seitdem stehen viele Wohnungen leer. Geblieben ist, wer sich das Wegziehen nicht leisten konnte. Gekommen sind sozial Schwache und Aussiedler, Felix spricht von Suff-Deutschen und Stressmacher-Russen. „Die Türken oder Araber sind nicht das Problem in Spandau“, sagt Felix, „mit denen kannst du reden, die kennen dich, weil sie wissen, dass du seit Jahren hier wohnst“.

In seiner Jugend ist er öfter mit seinen Freunden zum Kiesteich gegangen. „Kannste heute vergessen, da hängen nur noch die Säufer rum“, oft schon vormittags. Den Sprit holen sie sich ein paar Straßen weiter im Supermarkt, und weil so ein Tag lang werden kann und die Schritte mit jedem Gang schwerer, trinken sie auch gern vor dem Laden weiter. Abends ziehen schon mal Gangs durch die Straßen, „vor allem die Russen, die treten ja selten alleine auf“, sagt Felix. Er erzählt von einer Silvesterfeier, „ist schon ein paar Jahre her“. Mit ein paar Freunden stand er auf der Straße, sie prosteten sich zu und schossen Raketen in die Luft. „Na, und auf der anderen Seite standen die Russen“, auch sie feuerten Raketen ab, allerdings nicht in den Himmel, sondern auf die andere Straßenseite. Felix’ Jacke trug ein Brandloch davon, und die Freunde beschlossen, lieber zu Hause auf dem Balkon weiterzufeiern.

Martin Matz sagt, er hat in seiner kurzen Amtszeit als Stadtrat viele solcher Geschichten gehört. Oft hätten sich seine Gesprächspartner bedankt für seinen Mut. Endlich mal einer, der sage, was Sache sei. „Ich habe dann immer gefragt: Wieso Mut?“ Matz hat die Spandauer Probleme nicht entdeckt. Innensenator Erhart Körting (SPD) hatte im Frühjahr 2004 einen Stadtteilatlas mit neun Berliner Problemkiezen vorgestellt, vier davon aus Spandau. Als besonders kriminalitätsbelastet galten neben dem Falkenhagener Feld noch die Wilhelmstadt und die Neustadt. Und die Wasserstadt, ein Prestigeprojekt der Nachwendezeit.

„Die Wasserstadt Spandau zählt zu den attraktivsten Wohngebieten Berlin. Weitläufige Uferpromenaden eröffnen einzigartige Aussichten auf die Havellandschaft und den Spandauer See. Bootsanleger, Badestellen und Marinas laden zu reizvollen Freizeitvergnügen ein.“ So verkauft sich die Wasserstadt auf ihrer Homepage im Internet. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Zum Beispiel im Quartier Pulvermühle, errichtet im sozialen Wohnungsbau. In der Pulvermühle sieht es so aus, als habe ein Riese mit Bauklötzen gespielt. Es muss ein preußischer Riese gewesen sein, denn die roten Klinker-Klötzchen sind akkurat angeordnet wie die Baracken einer Kaserne. Viele Spielplätze, auf denen kein einziges Kind spielt. Die Fassaden der Häuser sind glatt und abweisend, es gibt keine Balkone. „Unglaublich, wie man so etwas bauen konnte“, sagt Stadtrat Matz. Das „Berliner Mietermagazin“ berichtet von hohem Leerstand, unter den Mietern seien „viele Aussiedler und Bezieher von Transfereinkommen, von denen viele als sozial auffällig eingeschätzt werden“.

Nun wäre es unfair, Spandau auf seine Problemgebiete zu reduzieren. Auch an der Havel gibt es Leuchttürme. Den neuen ICE-Bahnhof, gebaut von Meinhard von Gerkan. Die dörflichen Vororte Kladow und Gatow. Die Zitadelle, eine der besterhaltenen Renaissance-Festungen Europas. Den Weihnachtsmarkt in der Altstadt, überhaupt die Altstadt mit ihren gepflasterten Straßen und dem Grundriss aus dem Mittelalter. „Zeigen Sie mir so was mal in Berlin“, sagt Stadtrat Matz. Hat er Spandau lieb gewonnen in den vergangenen Monaten? „Natürlich! Ich wollte auch nichts schlecht reden, aber Probleme lösen sich nun mal nicht dadurch, dass man sie ignoriert.“

Die Ursachen für Spandaus Krise liegen tief. Der massive Fortzug lässt sich ebenso wenig rückgängig machen wie der Verlust tausender Arbeitsplätze in der niedergegangenen Industrie. Also widmet sich das Bezirksamt der Bekämpfung der Symptome, Martin Matz nennt es eine Politik der 1000 Lichter. Ein Licht brennt in der Altonaer Straße, das „Fairkaufhaus“ mit besonders günstiger Secondhand-Ware für Bedürftige. Der „soziale Weihnachtsmarkt“ auf dem Gelände des ehemaligen Boschwerkes findet bereits Nachahmer in anderen Bezirken. Am Kinderheim Sonnenhof an der Neuendorfer Straße befindet sich die einzige Beratungsstelle für alkoholgeschädigte Kinder in ganz Deutschland.

Kippt Spandau? „Dieser Ausdruck gefällt mir nicht“, sagt Martin Matz, „wenn wir so reden, können wir doch gleich aufgeben. Ich bin hier für fünf Jahre gewählt worden, es gibt viel zu tun“.

Auch Felix will bleiben. In Spandau, in seinem Kiez am Falkenhagener Feld. Trotz der Trinker am Kiesteich und obwohl das vom Senat finanzierte Quartiersmanagement dort „große Integrationsprobleme“ geortet hat, „das Verhältnis zwischen alteingesessenen Mietern und Spätaussiedlern ist angespannt und von Desinteresse und Abschottung gekennzeichnet“. Felix ist 1,90 Meter groß, er hat breite Schultern und sagt, dass „ich hier meine Leute kenne, ich bekomme keinen Stress“. Aber Silvester feiert er lieber zu Hause auf dem Balkon. Sicher ist sicher.

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