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Der Knüppeldamm, ein Wanderweg zwischen Storkow und Wendisch-Rietz (Brandenburg): Wenige hundert Meter entfernt wurde am 5. Oktober 2012 ein Berliner Investment-Manager von seinem Entführer am Ufer der Storkower Sees zwischen Erlen und Morast gefangen gehalten.

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Spektakulärer Entführungsfall in Storkow: Ein Puzzle aus 529 Hinweisen

Im Entführungsfall in Storkow gaben sie wertvolle Hinweise zu Täter und Tatablauf. Profiler helfen, wenn Ermittler nicht weiterkommen. Auf Spurensuche mit den Rekonstrukteuren.

Er konnte nichts hören, weil die Stöpsel in seinen Ohren steckten. Er konnte nichts sehen, weil das Band auf seine Augen drückte. Er konnte nichts riechen, weil das Klebeband seine Nase abdichtete. Auch Hände und Füße, festgezurrt mit Klebeband. Nur über dem Mund lag ein Loch. Er konnte atmen, immerhin. So lag er im Schilf, deponiert wie ein Postpaket, während die Kälte seinen Körper schwächte.

Irgendwann, nach Stunden, konnte er sich befreien. Und irgendwann stand er vor Polizisten, verstört, erschöpft – und erzählte seine Geschichte. Er war der Investmentbanker, der aus seinem Haus in Storkow verschleppt und entführt worden war. Er war der Mann, der sich ans Heck eines Kanus klammern musste, mit dem der Täter durch den Storkower See paddelte. Er erzählte, was er wusste. Erschreckende, dramatische Details.

Nur: Der Mann hatte Stunden in der Kälte gelegen, er hatte in dieser Zeit keine Sinnesreize gehabt. Wie mussten die Polizisten mit seinen Aussagen umgehen? Wann verliert man das Gefühl für Raum und Zeit?

Im Fall Storkow war es anders

Fundstücke, Suchstücke. Im spektakulären Entführungsfall eines Investment-Managers fahndete die Polizei mit Phantombildern des maskierten Täters und Zeichnungen seiner Kleidung. Die Umgebung von Storkow wurde von Beamten durchkämmt.

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Eine Frage für Spezialisten. Deshalb landete sie bei den Fallanalytikern des Landeskriminalamts Brandenburg, eine von vielen Fragen. „Im Fall Storkow waren wir von Anfang an eingeschaltet“, sagt Dieter Naumann, „das ist ungewöhnlich. Normalerweise kommen wir bei Altfällen dazu oder wenn Ermittlungen stocken.“ Naumann ist ein untersetzter Mann mit gemütlichem Gesicht, er leitet die Brandenburger Fallanalyse. Eine kleine Gruppe nur, gerade mal vier Personen. Zwei operative Fallanalaytiker, ein Datenbank-Experte, eine Sachbearbeiterin. Jetzt sitzt Naumann in einem nüchternen Büro im LKA Eberswalde. In zwei Jahren geht er in Rente, er ist jetzt 63.

Zu Naumanns Team kommen Kriminalisten, die bei schweren Straftaten alles ausermittelt haben, die nicht mehr weiterkommen. Es gibt ein Dezernat für Altfälle beim LKA Brandenburg, die Fallanalytiker sind ihm angegliedert. Und die studieren noch mal alle Akten, alle Zeugenaussagen, alle Spuren, alle sonstigen Hinweise. Nicht selten sind die Fälle zehn, zwanzig Jahre alt.

Die Kernfrage ihrer Arbeit lautet: Wie ist die Tat abgelaufen? Natürlich geht’s auch um ein Täterprofil – eine Filigranarbeit, bei der Psychologen mitpuzzeln. „Aber Hauptaufgabe ist die Tat-Rekonstruktion“, sagt Naumann. Die Ermittler vor Ort erhalten Hinweise von den Analytikern. Geht dieser Spur noch nach! Oder: Überprüft jenes Detail! Solche Dinge.

Im Fall Storkow war es anders. Naumanns Team hatte von Anfang an teilweise die gleichen Erkenntnisse wie die Ermittler vor Ort. Es hatte ja zuvor schon zwei gescheiterte Entführungsversuche bei einer Unternehmerfamilie in Bad Saarow gegeben. Möglicherweise war es derselbe Täter wie im Fall Storkow. Die Polizei sagte, sie habe 529 Hinweise aus der Bevölkerung erhalten. Wie viele und welche von Naumann und seinen Kollegen kamen, sagte sie nicht. Dienstgeheimnis. Aber es waren wertvolle Hinweise, über Täter, über den Tatablauf.

Sie hocken wochen- und monatelang über den Informationen

Monatelang arbeitete Naumanns Team an dem Fall. Der Kriminalpsychologe Jan-Gerrit Keil gehört auch dazu. Er kümmerte sich um die Frage, wie man die Aussagen des unterkühlten Opfers bewerten musste. Keil sitzt neben Naumann, zwei wortkarge Experten, wenn es um den Fall geht. Ein Tatverdächtiger ist in Haft, es ist ein laufendes Verfahren, sie dürfen nichts über ihre Erkenntnisse sagen.

Der brutale Entführer eines Geschäftsmanns soll eine schwarze Hose, eine grüne Softshell-Jacke, weiße Handschuhe und ein Gesichtsnetz getragen haben: Mithilfe dieser Zeichnung bat die Polizei um Hinweise.

© Polizei Brandenburg

Was ist das für ein Tätertyp? Weiß er, was es bedeutet, jemanden gefesselt in der Kälte liegen zu lassen? Oder ist er bloß grenzenlos naiv? Das waren Fragen, die sich der Psychologe Keil im Fall Storkow stellte. Der Kriminalist Naumann war noch mal an den Tatorten, im Garten der Villa in Bad Saarow etwa. Zur Tatzeit war es dunkel; was konnte man bei diesen Lichtverhältnissen gesehen haben? Solche Fragen beschäftigen Naumann.

Profiler nennen sie im Fernsehen Leute wie sie. Profiler? Naumann verzieht das Gesicht, er mag diesen Ausdruck nicht. Profiler, das sind in Filmen Leute, die bedeutungsschwanger erzählen, dass der Täter 42 Jahre alt ist, eine Glatze hat und früher Kaninchen gequält hat. So läuft das in der Praxis aber nicht.

Teamarbeit, das ist die Praxis. Zu Naumanns Kerntruppe stoßen immer wieder Experten. Leute wie Keil, der Psychologe. Oder ein Sprengstoffexperte. Oder ein Rechtsmediziner.

Sie haben Zeit, viel Zeit – das ist ihr größter Luxus. Sie hocken wochen- und monatelang über den Informationen, die sie von den Ermittlern vor Ort erhalten haben. Einmal hospitierte ein Kriminalbeamter aus einer Polizeiwache bei ihnen. Am Ende fragten sie ihn, was er seinen Kollegen erzählen werde. „Wenn ich sage, dass ich vier Stunden über einem Brief gesessen habe, halten die mich für bescheuert“, antwortete er. „Wir haben für vier Briefe zwei Stunden Zeit.“

Keil vertiefte sich für einen Fall wochenlang in Briefe und Postkarten. Es ging um Andrea Steffen, vergewaltigt und getötet Anfang der 90er Jahre. Der Fall war 20 Jahre lang ungelöst, dann wurde er noch mal genau untersucht. In der Nähe des Tatorts war ein Taschentuch gefunden worden, möglicherweise mit der DNA des Täters. Die DNA-Analyse hat sich enorm entwickelt, deshalb wurde zum Massenspeicheltest aufgerufen. Tage später warf sich ein älterer Mann aus dem Bereich Barnim vor einen Zug. In der Mittelkonsole seines Autos lag ein Brief, adressiert an die Polizei. Ein Geständnis, der Mann gab zu, Andrea Steffen vergewaltigt und getötet zu haben. Er beschrieb den Tatablauf.

Derzeit arbeitet Naumanns Gruppe an einem zehn Jahre alten Fall

Doch einiges stimmte nicht exakt mit den Erkenntnissen der Ermittler vom Tatablauf überein. Also zog man Keil hinzu. War das Geständnis glaubhaft? Oder litt der Mann unter Schuldwahn und zählte Dinge auf, die er aus dem Fernsehen hatte? Hatte er sich durch Zufall Täterwissen zusammengereimt? Der Täter war tot, die Aussagen der Familie nahmen die Ermittler mit Vorsicht auf, also studierte Keil Briefe und amtliche Post des Toten. Wie reagierte dieser Mensch auf Konflikte? Wie löste er sie, wie logisch argumentierte er? Am Ende urteilte Keil: „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war er der Täter und kann sich den Hergang nicht ausgedacht haben.“

Die Analytiker nähern sich einem Fall mit einer Flut von Fragen. Wann ist das Opfer aus dem Haus? Warum nahm es diesen Weg? Weicht der vom normalen Weg zur Schule, zur Arbeit ab, weil das Opfer zum Beispiel zum Zahnarzt musste? Das spräche für eine nicht lange geplante Tat. Oder bei Mord: Liegt die Leiche sorgsam versteckt? Oder kann man sie sofort finden? Spricht dies dafür, dass der Täter denkt, niemand könne eine Verbindung von ihm zum Opfer herstellen?

Banale Fragen auf den ersten Blick. Aber es sind Fragen, die zu einer zeitraubenden Puzzlearbeit führen. „In der Regel hat die Polizei vor Ort diese Fragen schon geklärt, trotzdem gibt es meist noch Defizite, etwa beim Opferbild. Wie hat das Opfer gelebt? Wie war sein soziales Umfeld?“, erzählt Naumann. Neue Denkansätze für die Ermittler vor Ort, im besten Fall führen sie zur Aufklärung der Tat.

Derzeit arbeitet Naumanns Gruppe an einem zehn Jahre alten Fall. Im Bugsinsee wurde 2004 eine Frauenleiche gefunden, in einem Seesack. Wie kam sie dahin? Dieser Frage gehen die Experten nach. Ein schwieriger Fall – sie wissen nicht mal, wer die Frau ist. Fachleute hatten ein Foto der Toten rekonstruiert und an Medien verteilt. Niemand erkannte sie. Das Datenmaterial ist dürftig. „Trotzdem“, sagt Naumann seufzend, „wir versuchen trotzdem etwas herauszufinden.“

Ernüchternde Ergebnisse gehören zum Job. Mindestens drei Analytiker müssen einen Fall besprechen, einer fungiert dabei als Moderator. Er hat den Part, immer wieder zu hinterfragen: Gibt es Lücken in der Argumentation? „Mitunter“, sagt Keil, „diskutieren wir acht Stunden über eine Version.“ Hört sich gut an. „Ja“, sagt Keil, „aber am nächsten Morgen verwerfen wir sie wieder.“

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