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Im ewigen Wandel. CDU-Politiker Henkel erlebt es auf seinen Reisen: Berlin wird international als Avantgarde angesehen. Touristen schätzten die kreative Energie, das Voranpreschen, das Ewig-Wandelnde.

© ddp

Spitzenkandidaten antworten Roger Boyes: "Berlin muss sich nicht verstecken"

Berlin hat ein Problem mit dem Tempo, sagt Frank Henkel. Der eine Teil peitscht nach vorne, der andere verharrt im Stillstand. Eine Antwort von Berlins CDU-Spitzenkandidat auf Roger Boyes.

„Times“-Korrespondent Roger Boyes hat Anfang Juli mit einem Essay von Berlin Abschied genommen und ist mit der Stadt hart ins Gericht gegangen: Unter der Überschrift „Wie Berlin uns alle betrügt“ kritisierte Boyes Berlin als Stadt, die von der „Schlafkrankheit“ befallen sei und sich wieder stärker öffnen müsse. In den vergangenen Wochen haben mehrere andere ausländische Korrespondenten ihre Sicht auf die deutsche Hauptstadt geschildert. Jetzt ergreifen Berlins Spitzenkandidaten für die Wahl des Abgeordnetenhauses das Wort. Den Anfang macht CDU-Landeschef Frank Henkel. Klaus Wowereit (SPD) und Harald Wolf (Linke) wollen sich bislang nicht an der Debatte beteiligen.

Roger Boyes will also Schluss machen mit Berlin. Der Befund des Berliner Korrespondenten der „Times“ ist genauso süffisant wie brutal: Berlin ist eine zweitklassige, narkoleptische Hauptstadt, eine Stadt, die alle betrügt, deren Einwohner sich gegen alles Ausländische und Merkwürdige zur Wehr setzen. Als Berliner fällt es schwer, diese Einschätzung nicht sofort im ersten Reflex zurückzuweisen. Aber ein scharfer und pointierter Kolumnist wie Boyes hat es verdient, dass man sich genauer mit ihm auseinandersetzt.

Ich habe kürzlich einige politische Gespräche in Brüssel geführt. Egal, mit wem ich mich unterhalte, sofort bekommt mein Gesprächspartner leuchtende Augen, wenn ich von Berlin erzähle. Über die Stadtgrenzen hinaus wird die deutsche Hauptstadt genau als das angesehen, was Boyes verloren glaubt: als Avantgarde. Die kreative Energie, das Voranpreschen, das Ewig-Wandelnde werden weithin geschätzt. Das Abenteuer Berlin zieht jedes Jahr Millionen von Touristen an. Bei allem Respekt, aber es ist mutig von Boyes, Melbourne oder Zürich gegen Berlin zu setzen. Berlin braucht sich vor diesen Städten nicht zu verstecken, gerade was den Wandel betrifft.

Viele Viertel haben in den letzten zwanzig Jahren ihr Gesicht verändert, manche sogar mehrfach. Prenzlauer Berg, einstmals Hort der Ost-Berliner Bürgerrechtsbewegung und geprägt von verfallenen Altbauten, wurde nach der Wende zum Mekka für Untergrund-Clubs und Dachgeschoss-Partys. Heute ist Ruhe eingekehrt. Die Gegend um den Wasserturm ist zum eher monokulturellen Habitat für den „Bionade-Biedermeier“ geworden, wie es die „Zeit“ einmal formuliert hat. Na und? Die Stadt ist groß, die kreative Szene zieht weiter, erobert sich neue Stadtviertel und unentdeckte Flächen. Was Prenzlauer Berg in den neunziger Jahren war, ist heute Kreuzkölln. An urbaner Dynamik fehlt es Berlin sicher nicht.

Also alles gut? Mitnichten. Natürlich gibt es hier und da auch eine Angst vor der Veränderung, die Boyes so sauer aufstößt. Wir erleben das bei den Debatten um Mediaspree oder die A 100. Gerade Investitionen werden in Berlin leider immer noch häufig als Bedrohung empfunden, angefangen beim Regierenden Bürgermeister. Auch die unselige Tourismusdebatte, die die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg führen, hat mit einer weltoffenen und toleranten Großstadt, die parteiübergreifend so gerne gefordert wird, nichts zu tun. Wer Touristen zum Feindbild erklärt, der verkennt, was Berlin mit am Leben erhält. Und wenn Thilo Sarrazin aus Kreuzberg verjagt und zur unerwünschten Person erklärt wird, dann zeigt sich, dass die viel gepriesene Toleranz offenbar nur in eine Richtung gilt.

Lesen Sie weiter auf Seite, was Henkel zu Flugrouten, Verkehr und zur Berliner Bildungsmisere sagt.

Frank Henkel, CDU-Spitzenkandidat für Berlin.
Frank Henkel, CDU-Spitzenkandidat für Berlin.

© dpa

Generell wäre es hilfreich, wenn viele Debatten nicht ganz so hysterisch geführt würden. Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte. Wenn ein Vermieter ein Bad saniert, wenn dort, wo früher ein Dritte-Welt-Laden stand, ein italienisches Feinkostgeschäft aufmacht, dann ist das noch lange keine Gentrifizierung. Aber wenn sozial schwache Menschen massenhaft an den Stadtrand gedrängt werden, weil sie ihre Mieten nicht mehr bezahlen können, dann ist das in der Tat ein großes Problem. Es ist die soziale Mischung, die Berlin spannend macht, und das müssen wir uns bewahren. Leblose Geschäftsviertel mit durchgestylten Bars gibt es woanders genug. Aber mit einem reinen Schwarz-Weiß-Denken kommen wir nicht weiter.

Das Gleiche gilt für die Flugrouten. Klar ist, dass die Menschen einen Anspruch auf Vertrauensschutz haben. Ich sympathisiere mit jedem, der nicht will, dass Flugzeuge über die Naherholungsgebiete am Wannsee oder Müggelsee donnern. Aber wer dabei gleich den ganzen Flughafen in Schönefeld infrage stellt, der spielt mit der Zukunft unserer Stadt.

Vielleicht ist Boyes, der in den siebziger Jahren als Student nach Berlin kam, schon zu lange dabei, dass er die Renitenz gegenüber manchen Veränderungen überbetont. Berlins Hauptproblem liegt aber nicht in mangelnder Aufgeschlossenheit und Wandlungsfähigkeit. Das Problem ist, dass sich Berlin in zwei Richtungen entwickelt, dass es eine Stadt der zwei Geschwindigkeiten ist. Hier die Stadt, die sich ständig neu erfindet, die sich unnachgiebig nach vorne peitscht, dort die Stadt, die die Normalität nicht mehr hinbekommt, in der Stillstand herrscht.

Wer morgens zur Arbeit will, der friert im Winter auf leeren S-Bahnhöfen. Unabgestimmte Baustellen machen das Autofahren zum Frusterlebnis. Wer als junger Mensch nach dem Studium sein Glück in der Industrie oder bei einem großen Unternehmen suchen will, der geht auch weiterhin nach Süd- und Westdeutschland. Wer heute noch Lehrer an einer Berliner Schule werden will, der braucht vor allem Mut und ein dickes Nervenkostüm. Und welche Stadt verkraftet es, wenn in zehn Jahren rund 4000 Polizisten abgebaut werden? Die Entwicklung, die wir heute in unseren U-Bahnhöfen und auf den Straßen erleben, ist leider eine logische Konsequenz.

Nicht nur Boyes beklagt, dass es der handelnden politischen Klasse an einer Vision fehlt. Das mag stimmen, aber die meisten Herausforderungen, vor denen wir stehen, sehen wir schon heute. Das Problem ist nicht, dass unsere Stadt Ausländer nicht willkommen heißt, sondern dass sie sich dabei selbst vernachlässigt. Berlin wirkt wie ein Magnet, der frische Kräfte von außen anzieht.

Lieber Roger Boyes, natürlich steht es Ihnen frei, in Ihre Heimat London zurückzukehren. Ich hoffe, dass Sie sich das trotz aller Kritik so schwer wie möglich machen, zumal auch in Ihren Zeilen die Liebe zur Stadt durchklingt, mit der Sie so hart ins Gericht gehen. Wie auch immer Sie sich entscheiden, es werden genügend Leute hierbleiben, die die Herausforderungen anpacken wollen. Aber bitte lassen Sie mich Ihnen sagen: Berlin betrügt niemanden. An dieser Stelle irren Sie. Die Stadt ist ehrlich, die Politiker sollten es auch sein. Berlins Probleme sind lösbar, aber wir müssen sie uns schon eingestehen. Daran mangelt es. Wir reden zu wenig über Lösungen. Das muss sich ändern.

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