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Sybelstraße in Charlottenburg: Szenenwechsel. Bunt und nicht verstaubt: Die Sybelstraße im Charlottenburger Kiez. Und das, obwohl sie 1904 nach einem Historiker und Direktor des Preußischen Staatsarchivs benannt wurde.

© Doris Spiekermann-Klaas

Berliner Lebensadern (6): Sybelstraße: Die Welt im Westen

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten: Die Sybelstraße im Charlottenburger Kiez verbindet Vergangenheit und Zukunft.

Keine der Berliner Innenstadtstraßen wird nach jedem grauen Winter früher grün als die Charlottenburger Sybelstraße, dort, wo sie lang und schnurstracks nach Westen ausläuft bis hin zum erst vor einem Monat neu getauften Kracauerplatz. Das botanische Phänomen, das die schmale Sybelstraße meist schon Anfang April wieder zur dichten Lauballee werden lässt, verdankt sich der in Stadträumen sonst kaum mehr angepflanzten Birkenpappel, genannt Populus simonii, und Herr Maasberg, Leiter des Grünflächen- und Tiefbauamts Charlottenburg-Wilmersdorf, weiß es genau: „Erst wenn die Simonii grünen, sagen wir als Experten, der Frühling kommt!“

Der Kracauerplatz am Ende der Straße hieß übrigens 100 Jahre lang Holtzendorffplatz, benannt nach einem Strafrechtsgelehrten aus dem 19. Jahrhundert, dessen Name auf den Straßenschildern nun durchgestrichen ist. Stattdessen gilt die Erinnerung dem Soziologen, Geschichtsphilosophen und früheren Berliner Redaktionschef der „Frankfurter Zeitung“ Siegfried Kracauer. Er hatte als Erster die moderne Angestellten-Kultur wissenschaftlich erhellt und mit seiner im amerikanischen Exil 1947 veröffentlichten Studie „Von Caligari zu Hitler“ ein Meisterwerk zur Geschichte des deutschen Films geschrieben. Im 4. Stock des gut erhaltenen Eckhauses Sybelstraße 35 wohnten Lili und Siegfried Kracauer von 1930 bis 1933, bevor sie vor den Nazis flohen.

Das ist vielleicht das Besondere: Die am Kracauerplatz endende Sybelstraße beginnt gegenüber dem vor einigen Jahren vom Architekten Hans Kollhoff neu geschaffenen Walter-Benjamin-Platz. So werden spät noch zwei Freunde und Kollegen miteinander topografisch verbunden, die ab 1933 auch Schicksalsgefährten waren, weil sie als Juden und herausragende Intellektuelle der Weimarer Republik beide vom Nazireich bedroht wurden. Im Unterschied zu Kracauer hat Benjamin an dem nach ihm benannten Ort zwar nie gewohnt, aber Charlottenburger war auch er (zuletzt in der Carmerstraße 3, nahe dem Savignyplatz).

Die auf den ersten Blick eigentlich unscheinbare Sybelstraße, mitten zwischen der parallel verlaufenden, ungleich verkehrsreicheren Kantstraße im Norden und dem Kurfürstendamm im Süden, sie wurde 1904 nach einem Historiker und Direktor des Preußischen Staatsarchivs benannt und verkörpert in ihren wilhelminischen Gründerzeitbauten ebenso wie in ihren zum Teil scheußlich aberwitzigen Zerstörungen ein Stück Berliner Weltgeschichte. Hier im Charlottenburger Bürgerkiez wohnten neben den russischen Emigranten aus Revolutionszeiten einst überdurchschnittlich viele jüdische Ärzte, Gelehrte, Anwälte, Kaufleute, Künstler. Schon deswegen passt der neue Brückenschlag von Benjamin zu Kracauer ganz gut. Aber was ist geblieben?

Hier findet sich der Berliner Mix der speziellen Art

Erich Kästner, kein Jude, doch ein „verbrannter Schriftsteller“, der bis 1945 erst in einem Hinterhaus der Roscherstraße (fast Ecke Sybelstraße) und dann, ausgebombt, bei Freunden in der Sybel-/Ecke Giesebrechtstraße die Nazis als pseudonymer Autor für die UFA überlebt hatte, schrieb in seinem „Fabian“-Roman über das Berlin von einst: „Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang.“ Die Unzucht ist im Westen und insbesondere in der Sybelstraße heute nicht mehr so gegenwärtig, ausgenommen vielleicht ein Sexladen an der Kreuzung zur Lewishamstraße, die als vierspurige typische Berliner Nachkriegssünde die Sybelstraße in eine östliche und westliche Hälfte bis fast zur Unkenntlichkeit des ursprünglichen Straßenverlaufs zerschneidet.

Zur Berliner Mischung gehört gewiss auch, dass gegenüber dem monumental-mondänen Walter-Benjamin-Platz die Sybelstraße Nr. 1 sich als Nummer 1 der speziellen Art präsentiert: Es ist eine Lokalität namens „Klo“, mit dem Hinweis „Spülstunden ab 19 Uhr“ und der Eigenwerbung „Das Beknackteste seit es Kneipen gibt“. Direkt daneben aber erhebt sich der ehrwürdige, mit antiken Figurinen geschmückte Trutzbau der Sophie-Charlotte-Oberschule – im 19. Jahrhundert das erste Mädchengymnasium Berlins und nach 1933 als damalige „Fürstin-Bismarck-Schule“, wie einige Überlebende später berichteten, für die zahlreichen jüdischen Mädchen durch ihre couragierten weiblichen Lehrkräfte jahrelang noch ein Ort der Achtung und Menschlichkeit.

Gleich daneben an der Hausnummer 5 liegen acht Stolpersteine vorm Eingang: Dort haben die Familien Kellmann, Baron, Salomon und Wilk gelebt, deportiert zwischen November 1941 und Februar 1943, ermordet in Minsk, Riga, Auschwitz. Ein Beispiel hier, für viele. Am Haus Nr. 9 etwa hängt eine Gedenktafel für die private jüdische Musikschule Hollaender; auch ihre Lehrer und Schüler wurden in jenen Jahren ausgelöscht. Nebenan residiert heute ein „Yoga Tempel der Sinne“, doch es gibt auch wieder vereinzelte Geschäfte und Büros der neuen jüdischen Bürger.

Am feinsten ist die Gegend, wo die Sybelstraße den hübschen Meyerrinck-Platz quert (benannt nach Hubert von M., einem wunderbaren schwulen, gesellschaftslöwigen Filmkomödianten). Hier wohnte einst der Komponist Eduard Künneke („Der Vetter aus Dingsda“), heute lockt gegenüber das „Kurbel“-Kino mit seinen Previews (gerade erst von Christopher Nolans „Inception“). Um die Ecke hat der scheue Dichter Botho Strauß seine Berliner Stadtwohnung, und etliche der mit ihm befreundeten einstigen Schaubühnen-Schauspieler, von Jutta Lampe über Gerd Wameling bis Udo Samel, leben in der Sybelstraße weiter westlich Richtung Kracauerplatz.

Dorthin weist der hohe, nachts angestrahlte backsteinrote Uhrturm der Charlottenburger Reformschule bei der Einmündung Roscherstraße, und kaum hundert Meter weiter findet sich die neue Westmischung in der Essenz: Neben der Raucher- und Fußballkneipe „Zum gemütlichen Schotten“, ältestes West-Berlin, leben und arbeiten Wand an Wand eine Filmproduktion, die von Bob Dylan bis Lena auf Musik und Kultur spezialisierte Plakatfirma Jomi und der sehr junge Anzugmacher und Designer Daniel Kroh, der dort seit zwei Jahren sein markengeschütztes „ReClothing“ betreibt. Kroh trägt gerade ein seidig wirkendes helles Sakko mit sonderbar dunklen, wie mit Tusche gezeichneten Spuren und sagt: „Das stammt von einer alten Schweißerjacke“. Daniel Kroh kauft tonnenweise „Textilmüll“ und verwandelt ihn in superschicke Neukleidung. So schneidert er in seinem Winzatelier bereits für Hollywood und Kunden in ganz Europa. Und im Haus gegenüber, darin erinnert keine Tafel, lebte einst die junge Jüdin Felice, die tragische Titelheldin aus dem Film „Aimée und Jaguar“. Zukunft und Vergangenheit sind hier gegenwärtig.

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