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Stadtleben: Erzähler einer wilden Zeit

Er ist Verleger, Pornoproduzent und vor allem eines – ein Mann abenteuerlicher Geschichten. Jörg Schröder wird an diesem Freitag 70 Jahre alt

„Wer ist dieser Herr?“ Immer, wenn Jörg Schröder aufkreuzt, irgendwo im Zusammenhang mit Kultur, Literatur, alternative Szene, meistens in Berlin, aber auch anderswo, in Frankfurt auf der Buchmesse zum Beispiel, taucht die Frage auf, nach diesem Herrn, der so blendend erzählen kann. Schröder ist überall, wo es etwas zu erzählen gibt über die alternative Szene von früher. Von Ereignissen und Abenteuern, denen von den Nachgeborenen der Begriff „Achtundsechziger“ angeklebt wurde.

Jörg Schröder, Verleger, März-Verlag: Dort erschienen die gelben Bände in der roten und schwarzen Schrift mit der außergewöhnlichen Typographie. Spätestens bei diesen Stichworten klingelt es wohl bei den meisten, die zwischen 1969 und 1989 Spaß hatten an der Entdeckung aufregend neuer, lebensdraller Bücher unterschiedlichster Gattungen. Und sofort erinnern sich viele an die ersten „gelben Bände“, die sie bei sich zuhause im Regal hatten: „Sexfront“, das erfrischend fröhliche Aufklärungsbuch von Günter Amendt (1970), „Acid“, die 1969 herausgegebene Anthologie zur damals noch unbekannten „Neuen amerikanischen Szene“, der „Beat Generation“ und ihrer Nachfolger – von William S. Burroughs über Michael McClure bis Charles Bukowski.

Jörg Schröder veröffentlichte, was ihm selber Spaß machte, was ihn interessierte, und wofür er ein größeres Publikum zu begeistern versuchte. Von politischen Büchern wie Edgar Snows „Roter Stern über China“, über die Comics des noch unbekannten Robert Crumb, Romane und Gedichte von Leonard Cohen, die drollig prolligen Ruhrpottburlesken von Henning Claer („Laß jucken, Kumpel!“) bis zu Bernward Vespers 68er-Generationen-Roman „Die Reise“. Und immer wieder Berauschendes aus den USA: Carlos Castanedas „Lehren des Don Juan“ oder „Einer flog über das Kuckucksnest“ von Ken Kesey. Schließlich auch sein eigenes Buch: „Siegfried“ (1972). „Skandal!“ wurde damals geschrieen. Dabei hatte Schröder nichts anderes getan, als vergnüglich und aufrichtig seine eigene Lebensgeschichte zu erzählen, wobei er weder sich selbst, noch seine Weggefährten schonte: von Kriegs- und Nachkriegskindheit im Ostberliner Bezirk Pankow-Niederschönhausen, Schulzeit in Rinteln an der Weser, Jugendwirren und Lehre in der berühmten Schrobsdorff’schen Buchhandlung in Düsseldorf. Von seinen verzweifelten Versuchen Geld zu verdienen, unterwegs als Vertreter für Olivetti-Schreibmaschinen, von seinen tragisch komischen Suff- und Puff-Abenteuern, von alten Nazis und neuen Linken und von seinen beispielslosen Auf- und Abstiegen im Verlagsgeschäft. Bei letzteren etwa konnte er sich wieder einen neuen Jaguar leisten und ein Schlösschen in Niederflorstadt. Und wenn ihm alles wieder zerrann waren das Geld weg, das Schloss, der Jaguar und der Verlag. Und alles noch mal von vorne bei Zweitausendeins. Aufbau, Abbau, neuer Jaguar, verkaufter Jaguar.

Schröder war es auch, der damals die „Mini-Nukes“, die als Wasserwerke getarnten Atomminendepots der USA entlang der DDR-Grenze entdeckte. Sein Plaudern darüber schob 1980 die zweite deutsche Friedensbewegung mit an. 1969 leierte er die erste deutsche Pornofilmproduktion an, natürlich „emanzipativ korrekt“.

Nachdem er nach zwei Herzinfarkten Ende der 80er das Verlagsgeschäft aufgegeben hatte, aber nicht aufhören wollte mit dem Erzählen, kam ihm die Idee zu „Schröder erzählt“ – ein exklusives Projekt: Ausschließlich für „Subskribenten“, die vorab bestellen und bezahlen, erzählt Schröder seit 1990 in vierteljährlichen Folgen, einzeln nummeriert, signiert und gewidmet, auf jeweils 50 Seiten edlem Papier, Enthüllungen aus dem deutschen Kulturbetrieb und Gesellschaftsleben. Und immer nennt er dabei „Ross und Reiter“, kein Name wird literarisch verschlüsselt. Wie schon in seiner Autobiografie „Siegfried“ plaudert er alles aus, was ihm ausplaudernswert erscheint.

In ihrem Schöneberger Dachgeschoss, in dem sie seit Dezember 2005 leben, produzieren Jörg Schröder und seine langjährige Lebens- und Arbeitspartnerin Barbara Kalender zur Zeit „Traurige Tulpen“, die inzwischen 52. Folge von „Schröder erzählt“. Dabei kommt immer das gleiche Verfahren zum Einsatz: Schröder erzählt seine Geschichten, seine Partnerin nimmt sie auf. Anschließend werden die Bänder in mühevoller, wochenlanger Kleinarbeit ausgewertet, redigiert und in eine endgültige Form gebracht. Es folgen liebevolle Gestaltung, Binde- und Verpackungsarbeiten im heimischen Studio. Anschließend rollt Jörg Schröder die große Ladung höchstpersönlich in mehreren Fuhren per Sackkarre zum Postamt am Bundesplatz. Und ein paar Tage später erhalten die Fans in ganz Deutschland neuen Lesestoff. Und wer einmal auf den Geschmack gekommen ist, mag nicht mehr lassen von der unendlichen Saga, sagt Schröder.

Neueinsteiger können sich alte Folgen nachbestellen und darüber amüsieren, wie Jörg Schröder etwa 1969 in kühner Hochstapler-Manier Personal, Autoren und Produktionsmittel des von ihm sanierten Melzer-Verlags handstreichartig „kollektivierte“. Mit den Einnahmen der von ihm geführten deutschen Dependance des Pornoverlags „Olympia Press“ etablierte er seinen eigenen „März Verlag“ – und damit die Geschichte der „gelben Bände“.

An diesem Freitag (24. 10.) wird Jörg Schröder 70 Jahre alt. Zu diesem Anlass erscheint im Martin Schmidt Verlag, Berlin, eine edle, auf 70 Exemplare limitierte Jubiläumskassette mit 50 Folgen von „Schröder erzählt“.

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