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Moritz von Uslar: Durchboxen – bis man zu Boden geht

Moritz von Uslar liest aus seinem Buch über ein fernes, fremdes Land mit merkwürdig anrührenden Menschen: Brandenburg.

Berlin/Zehdenick - Er hätte sich natürlich auch alles einfach machen können. Hätte an einen völlig heruntergekommenen, finsteren Ort fahren und alles furchtbar und schrecklich finden können. Die Menschen. Die Gegend. Den Alltag. Hat er aber nicht. Stattdessen ist Moritz von Uslar in eine Kleinstadt gefahren, die nicht in ihrer eigenen Trostlosigkeit zu versinken droht. In der die Bewohner ihr provinzielles Außenseitertum mit Stolz und Würde ertragen. In der sich Kaputtheit und Perspektivlosigkeit hinter rosa Hausfassaden verbergen.

Im vergangenen Jahr hat Moritz von Uslar, 40, seinem Mikrokosmos in Mitte den Rücken gekehrt und drei Monate in dieser Kleinstadt verbracht. In Interviews und in seinem gerade erschienenen Buch „Deutschboden – Eine teilnehmende Beobachtung“, das er am Donnerstag in der Zitty-Leserlounge in der Kantine des Berghain vorstellt, nennt er sie Oberhavel. In Wirklichkeit handelt es sich um Zehdenick, gut eine Autostunde von Berlin entfernt. Nicht weit weg, könnte man meinen. Doch wer Uslars bisherigen Werdegang verfolgt hat, wer seine legendären 100-Fragen-Interviews mit Stars wie Mick Jagger, George Clooney und Hillary Clinton kennt, der weiß: Weiter weg hätte er sich kaum begeben können.

Die Geschichte. Sie handelt vom Alltag in der brandenburgischen Provinz: Von gebrochenen Gestalten, die ihre Tage in der Kneipe verbringen; von Nachmittagen an der Tankstelle; von Gesprächen über Tattoos, Autos, Hartz IV, Nazis und Sex, über große und kleine Träume, über Sinn und Unsinn im Leben. Rock’n’Roll auf dem Dorf, die Idee habe er schon seit langem im Kopf gehabt, sagt Uslar: „Die Leute, die an den Bushaltestellen stehen oder an Tankstellen auf den Boden spucken und viel Zeit haben, die haben mich schon immer interessiert.“ Was konkret? „Mir gefällt dieses ganze Zeit-Kill-Programm, was da stattfindet. Die große Leere, die heroisch ertragen wird von Leuten, die im Nichts rumstehen.“

Einfach sei die Recherche nicht gewesen, erzählt Uslar, er sei zu niemandem hingegangen und habe Interviews geführt, außer mit ein paar Vertretern der Stadt, aber die seien alle nicht reingekommen – langweilig. „Ich habe mich saufend zur Verfügung gestellt. Ich habe mich an die Theke gestellt und gewartet, und dann sind Dinge passiert.“ So kam der Autor mit Heiko und Hansi Schröder ins Gespräch, Betreiber der Kneipe, in der er seine Recherchen begann. Er lernte die Jungs von 5 Teeth Less kennen, eine Punk-Band, die auf den großen Durchbruch hofft, oder wenigstens auf einen unterhaltsamen Abend im Proberaum. Und er meldete sich im örtlichen Boxverein an, in der Hoffnung, durch den Sport schneller Anschluss zu finden. Ein Irrglaube. Die Männern mieden den „Großstadtmenschen“, den „Walther von der Vogelweide“, wie sie ihn nannten; im finalen Kampf ging Uslar mit den Worten „Du Westsau“ zu Boden. Für ihn die einzige Niederlage während seines dreimonatigen Aufenthalts.

Ost und West, dieser Aspekt wird im Buch nur selten offensiv thematisiert. Im Subtext aber ist er immer vorhanden. Uslar, der Westler, kommt in die ostdeutsche Provinz und wirkt dort zunächst wie ein Eindringling. Der Eindruck, dass der Reporter den Osten nicht kennt, täuscht jedoch. Uslar, der in Berlin aufgewachsen ist, unternahm als Kind und Jugendlicher mit den Eltern häufig Tages- und Wochenendreisen in die DDR. Daher habe er sich an „ganz viele Gefühls- und Stimmungsdaten dieses untergegangenen Landes“ erinnert: „Im Buch sage ich, dass ich Ostalgiker war, bevor es dieses Wort gab.“

Er habe „alles über des Prolls reine Seele“ erfahren wollen, heißt es in „Deutschboden“. Uslar sagt, er habe festgestellt, dass die Menschen sehr aufgeschlossen waren, sehr intelligent und doppelbödig, ironisch. Der auf den ersten Blick „gefährlich und zugenagelt aussehende Kleinstadtmensch“ habe auf ihn ziemlich helle und aufgeweckt gewirkt. Sein Fazit: „Die Leute wirkten nicht fremdbestimmt, elend und deprimiert, sondern so, als ob es ihnen ganz gut geht.“

Der Aufenthalt in der Kleinstadt habe ihm sehr gut getan, erzählt Moritz von Uslar: „Er hat die unzynischen Kräfte bestärkt.“ Zu einigen Protagonisten aus seinem Buch hat er heute noch Kontakt. Zu den Musikern zum Beispiel, mit denen plant er einen gemeinsamen Auftritt in Berlin. Stattfinden soll er am 9. November, dem 21. Jahrestag des Mauerfalls, in der Galerie „Vittorio Manalese“ in Charlottenburg. Uslar liest aus seinem Buch, 5 Teeth Less spielen ihr erstes großes Konzert und im Anschluss liegt DJ Fetisch auf. Und auch nach Oberhavel, sprich: Zehdenick, wird der Autor zurückkehren, geplant ist eine Lesung. Er sei wahnsinnig gerne dort gewesen, sagt Uslar. „So gerne, dass ich am Ende dachte, ich muss ein bisschen aufpassen, das wird ja fast ein bisschen dumm, wie gerne ich hier bin.“

Kantine@Berghain, Rüdersdorfer Straße 70, Friedrichshain. Beginn: 20 Uhr, Eintritt: 5 Euro

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