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Neue Berlin-Bücher: Totentanz im Mai

Ein 17-Jähriger erlebte die Schlacht um Berlin 1945 – sein Tagebuch wurde jetzt neu aufgelegt.

Treffpunkt Charlottenbrücke – schon im Baedecker-Reiseführer aus der Kaiserzeit wird das nach Sophie Charlotte, der Frau des preußischen Königs Friedrich I., benannte Bauwerk als Ausgangspunkt für „idyllische Spaziergänge“ am Spandauer Lindenufer gepriesen. Gleiches empfehlen heutige Reiseführer. Helmut Altner erlebte den Havelübergang in der Altstadt am 2. Mai 1945 ganz anders. „An der Treppe zur Überführung ducken sich die Menschen. Einige wagen sich aus der Deckung, rennen hinüber“, notierte der damals 17-Jährige später. Dann springt auch er los, „zusammen mit Frauen, Kindern, Greisinnen.“ Geschosse von Tieffliegern pfeifen über ihn hinweg, schlagen in Körper ein. „Nur fort hier!“, ist sein einziger Gedanke, „fort von diesem Totentanz.“

Helmut Altner schildert in seinem neu aufgelegten Tagebuch aus der Schlacht um Berlin auch diesen letzten Fluchtversuch von Zivilisten und Volkssturmangehörigen aus der von sowjetischen Truppen nahezu vollständig eingekesselten Stadt. Tausende wollten in aller Frühe über das Schlupfloch Charlottenbrücke in Richtung Potsdam entkommen. Ihr Ziel war die einzige noch halbwegs intakt operierende Wehrmachtstruppe im Südwesten Berlins unter dem Oberbefehl von Walter Wenck. Doch während sie sich in die MG-Salven stürzten, bereitete der Kampfkommandant der Reichshauptstadt, General Helmuth Weidling, schon die Kapitulation vor. Wenig später war Berlin besiegt. Auch die sogenannte Wenck-Armee gab auf.

Der Tagebuchschreiber geriet für zwei Jahre in sowjetische Gefangenschaft und vervollständigte in dieser Zeit seine Aufzeichnungen. 1947 veröffentlichte sie ein Offenbacher Verlag unter dem Titel „Totentanz“. Helmut Altner kaufte sich vom Honorar ein Motorrad.

Die Erstauflage war schnell vergriffen, danach geriet das Buch in Deutschland in Vergessenheit. In England gab es seit den sechziger Jahren drei Neuauflagen, veranlasst vom britischen Militärhistoriker Tony Le Tissier. Dieser hatte den Band in einem Antiquariat entdeckt und übersetzt. Dabei arbeitete er eng mit Altner zusammen, der inzwischen als Journalist in Paris lebte.

Die Bedeutung des reportagehaften Augenzeugenberichtes aus den Tagen des Totentanzes war Le Tissier schnell klar geworden – zumal er selbst ein Standardwerk darüber veröffentlicht hat: „Der Kampf um Berlin 1945“. Helmut Altners Tagebuch ergänzt seine Abhandlung erzählerisch. Der Wahnsinn von Hitlers letztem Aufgebot wird so eindrücklich klar, dass die Lektüre an die traumatischen Szenen in Remarques Antikriegsklassiker „Im Westen nichts Neues“ erinnert. Nun ist in Kooperation mit Le Tissier die deutsche Zweitauflage herausgekommen. Der Autor hat es nicht mehr erlebt, er starb 2006.

Helmut Altner wurde am 29. März 1945 eingezogen. 18 Tage später begann die Schlacht um Berlin. Von 150 Jugendlichen des Jahrgangs 1928, die mit ihm ausrückten, blieben nur er und ein Kamerad am Leben. Im Oderbruch erhielt er eine Kampfeinweisung, geriet in Berlin mitten hinein in die Gefechte in Straßen und U-Bahnschächten und zog sich mit seiner Einheit in den Flakbunker am Bahnhof Zoo zurück. Dabei fühlte er sich nicht nur vom Gegner, sondern auch von eigenen Befehlshabern bedroht. Gleich nach der Einberufung wurden vor seinen Augen Fahnenflüchtige exekutiert.

„Alles ist zusammengebrochen“, denkt Altner, als er über die Charlottenbrücke hastet. Kurz danach wirft er seine Pistole vor den Augen eines Russen weg. „Krieg kaputt. Du nach Hause!“, sagt der zu ihm. Dem jungen Mann kommen die Tränen. Aus Erleichterung, dass der Gegner menschlich ist. Aus Schmach, dass er etwas anderes glauben konnte.

— Helmut Altner: Totentanz Berlin. Kommentiert und illustriert von Tony Le Tissier. Berlin Story Verlag, Berlin. 383 Seiten, 19,80 Euro

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