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Public Viewing

© David Heerde

Public Viewing: Gemeinsam glotzen

Immer mehr Berliner treffen sich zum „Public Viewing“ in der Kneipe Angeschaut werden Tatort, Dittsche oder Heidi Klum. In Kreuzberg bekommt man den Nacken massiert.

Es ist nur ein Mann im Raum. War ja klar. Er sitzt ganz hinten am Rand, sein Name ist Sten Albertowski, und er beteuert, dass er nicht freiwillig gekommen sei – die Cousine habe ihn mitgeschleppt. Trotzdem: Die Show gefällt ihm. Vor allem Kandidatin Sara: „Wenn es nach mir geht, gewinnt die.“

Es ist Donnerstagabend in der Brotfabrik, dem Kulturzentrum in Weißensee, direkt an der Grenze zu Prenzlauer Berg. Rund 20 Frauen sitzen mit Sten Albertowski im abgedunkelten Hinterzimmer vor einer Leinwand und schauen zu, wie Heidi Klum ein weiteres Mal „Germany’s Next Topmodel“ sucht. Es wird getuschelt, gekichert, und als eine Kandidatin ihre schlecht lackierten Fußnägel in die Kamera hält, wird auch ein bisschen gelästert. Heute stehen einige Bierflaschen auf den Tischen, das ist ungewöhnlich, sagt die Bedienung, normalerweise muss sie donnerstags abends vor allem Prosecco ausschenken. Warum sich ihre Gäste die Sendung nicht zu Hause ansehen? Weil man hier wunderbar Theorien austauschen kann. Eine Zuschauerin behauptet, die aufmüpfige Kandidatin Tessa sei von den Machern der Show angeheuert worden, damit es spannender wird. „Die Frau ist nicht echt, niemals.“ Eine andere glaubt, die Brüste von Kandidatin Ira seien nicht echt. Und die meisten sind sich einig: Die schüchterne Maria sieht viel besser aus, seit sie sich die Haare kurz geschnitten hat.

Die Guckgemeinschaft hat noch mehr Vorteile. In der Brotfabrik geht man niemandem mit seinem Fanwissen auf die Nerven, hier wird gelobt, wer die zehn Bestplatzierten der letzten Staffel noch mit vollem Namen aufzählen kann. Und es gibt was zu gewinnen. Eine Mitarbeiterin der Brotfabrik verteilt Zettel, auf denen jeder tippen kann, wer die aktuelle Staffel gewinnt. Unter den Gewinnern werden Freikarten fürs Kino verlost, das es in der Brotfabrik auch gibt.

Man muss kein Fan von Heidi Klums Modelshow sein, um die Erfahrung des Gruppenguckens machen zu können. Fast drei Jahre nach der Fußball-Weltmeisterschaft ist „Public Viewing“ ein fester Bestandteil der Berliner Kneipenkultur geworden. Sehr gemütlich ist der Fernsehabend im „Gegenüber“ in der Erich-Weinert-Straße in Prenzlauer Berg. Der Laden heißt so, weil der Besitzer auf der anderen Straßenseite wohnt und sich irgendwann dachte: „Gegenüber mache ich eine Kneipe auf.“ Jeden Sonntagabend schaltet der Wirt nun den Fernseher ein, damit seine Gäste gemeinsam „Dittsche“ gucken können, die preisgekrönte Live-Sendung, in der Komiker Olli Dittrich die Ereignisse der Woche kommentiert. Derzeit läuft „Dittsche“ auf einem späten Sendeplatz, erst um halb zwölf geht es los, aber egal: Im Gegenüber sitzen immer genug Gäste an der Theke, um mitzuschauen.

Schon etwas länger gibt es den Trend zum gemeinsamen „Tatort“-Gucken. Angefangen hat es vor fast fünf Jahren, und ausnahmsweise einmal nicht in Berlin, sondern in Hamburg. Dann kamen Tatort-Treffs in Kiel, Frankfurt und Mainz dazu – und natürlich auch in Berlin. Mittlerweile kann man hier zwischen einem Dutzend Tatort-Guckgemeinschaften auswählen. Zu den beliebtesten zählt die FC Magnet Bar in Mitte, direkt am Weinbergspark gelegen. Die ersten Gäste hocken schon vor acht vor der Leinwand – um gute Plätze zu reservieren und um vor dem Krimi noch die Tagesschau zu gucken. Unten im Keller läuft ein weiterer Fernseher, der zeigt spanischen Fußball, heute Real Madrid gegen Bilbao. Es sind etwas mehr Männer da als Frauen, die meisten sehen aus, als hätten sie gerade ihre ersten Berufsjahre hinter sich.

Tatort-Fans sind angenehme Zuschauer. Sie quatschen nicht dazwischen, sie machen nicht „Iiiieh“, wenn sie eine Leiche sehen. Und vor allem: Sie behalten für sich, wer wohl der Täter sein könnte. Nur die Bardame stört, wenn sie zwischendurch Gläser abspült.

Fernsehgucken in der Gruppe ist in Berlin meistens kostenlos, nur ein Veranstalter in Kreuzberg verlangt zehn Euro Eintritt – der Besuch lohnt sich trotzdem. Denn die Macher des „Gernsehclubs“ schalten nicht einfach bloß ihre Kiste an, sie zelebrieren das Fernsehen: Jeden zweiten Mittwoch mieten sie den Gotischen Saal auf dem Kreuzberg, stellen in der Mitte sechs Plasmabildschirme auf und gruppieren hundert Sitzsäcke drumherum. Dann werden Spielfilme geguckt. Oder Serien. „Friends“, „King of Queens“, „Little Britain“. Gummibärchen und Hotdogs sind im Eintritt enthalten, auch die Nackenmassage, man muss nicht mal aufstehen, es reicht, einer der anwesenden Masseurinnen ein Zeichen zu geben. Nächsten Mittwoch läuft „Wayne’s World“, der Klamaukfilm mit Mike Myers, und im Publikum wird unter anderem der Synchronsprecher Oliver Rohrbeck sitzen. Er hat Myers in der deutschen Fassung seine Stimme geliehen. Komiker Oliver Kalkofe ist jedes Mal dabei. Weil er so gerne fernsieht, weil er mit dem Erfinder des Gernsehclubs befreundet ist. Und weil sein Nacken oft verspannt ist.

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