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Berlin: Stadträte werfen Sarrazin Realitätsverlust vor

Sozialhilfeausgaben 120 Millionen Euro über Plan: Die Bezirke wehren sich gegen die neuen Sparvorgaben der Finanzverwaltung

Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) stößt mit seinen jüngsten Sparvorgaben an die Bezirke auf vehementen Widerstand – gedämpft durch Heiterkeitsausbrüche. Mit ungläubigem Lachen kommentieren Stadträte die Appelle, die Prüfdienste ihrer Sozialämter zu optimieren, arbeitsfähige Leistungsempfänger sofort in Arbeit zu vermitteln und bei der Jugendhilfe zu sparen. Die Sozialhilfeausgaben, stellte Sarrazins Behörde fest, überstiegen den Ansatz im Doppelhaushalt schon jetzt um 120 Millionen Euro.

Der Reinickendorfer Stadtrat Frank Balzer (CDU), bekannt für seinen ebenso strengen wie effizienten Prüfdienst, sagt: „Sofort in Jobs vermitteln? Das kann ich gar nicht ernst nehmen.“ Selbst in Reinickendorf, wo die Sachbearbeiter mit 110 Akten schon die geringsten Fallzahlen bearbeiten und „ein kleines Arbeitsamt betreiben“ gelinge es nicht, jährlich mehr als 600 bis 700 Sozialhilfeempfänger in Arbeit zu bringen. Der erste Arbeitsmarkt gebe einfach nicht mehr her und der zweite erst recht nicht. Nicht einmal die 6000 zusätzlichen Stellen, die Rot-Rot versprach, stünden zur Verfügung.

Michael Freiberg (CDU), Gesundheitsstadtrat in Neukölln, der seinen Sozial-Kollegen vertritt, rät Sarrazin, aus seinem „Finanzwolkenkuckucksheim“ in ein Sozialamt herabzusteigen. Bei den „steuerbaren“ Ausgaben, bei denen die Finanzverwaltung jetzt 70 Millionen Euro Mehrausgaben moniert hat, gebe es kein Sparpotenzial mehr. Neunzig Prozent der Hilfeempfänger seien wegen der schlimmen Wirtschaftslage in Berlin „ganz normale berechtigte Menschen“. Sarrazins Druck auf die Sozialämter sei „schamlos“, sagt Freiberg. Neukölln brauche zunächst sogar mehr Mittel – um mehr Sachbearbeiter im Sozialamt einstellen zu können. „Wer 180 Fälle bearbeitet, kann nicht gut beraten und berufliche Perspektiven aufbauen.“

In Treptow-Köpenick rechnet Sozialstadträtin Angelika Buch (PDS) vor, wie schwer es ist zu sparen. Kein arbeitsfähiger Jugendlicher von 18 bis 25 Jahren lebe derzeit von Sozialhilfe, sagt die Stadträtin. 1242 Antragsteller seien in den vergangenen 15 Monaten in Arbeit vermittelt worden. Trotzdem stieg die Zahl der Hilfeempfänger von 8217 im Juli 2001 auf jetzt 8957.

Auch im Sozialamt Spandau herrscht Verwunderung über Sarrazins Vorgaben. „Der Finanzsenator muss sich von seinen Sparzielen verabschieden“, steht für Amtsleiter Thomas Fischer fest. Ihm fehlen 16 Millionen Euro gegenüber 2001, und er weiß nicht, wie er die Lücke stopfen soll. In den „ganz netten Workshops“ der Senatsverwaltung für Soziales habe es keinen Hinweis darauf gegeben, wie die Ausgaben gesenkt werden könnten.

Ins Leere gingen auch Sarrazins Forderungen im Bereich „Arbeit statt Stütze“. Wenn der Senator fordere, arbeitsfähigen Hilfeempfängern zumindest einen gemeinnützigen Job anzubieten, müsse er dafür die Mittel zur Verfügung stellen, fordert Spandaus Sozialstadträtin Birgit Bialkowski (SPD). Den Sozialhilfeempfängern steht ein Stundenlohn von 1,50 Euro zu. Bislang gibt es in Spandau nur für 700 von 3000 Anwärtern einen Job.

Ein brauchbares Spar-Instrument zeichnet sich dennoch ab. Wie berichtet, können die Sozialämter seit einigen Monaten in Erfahrung bringen, ob Hilfeempfänger über Bankkonten verfügen, für die Zins-Freistellungsanträge gestellt wurden. Zurzeit werden die entsprechenden Listen ausgewertet. In Lichtenberg-Hohenschönhausen gab es bereits erste Anhörungen von „Verdächtigen“. Laut Fachbereichsleiterin Hannelore Mouton gibt es vor allem im Heim- und Pflegebereich Ermittlungen: Offenbar machten Pflegebedürftige oder ihre Angehörigen falsche Angaben über die Vermögensverhältnisse, damit das Sozialamt die Heimkosten übernimmt. In Spandau wurden bislang 1200 „Verdachtsfälle“ angeschrieben und zum Teil angehört. -ry/sve

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