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Berlin: Ständchen für eine Legende

Mit Blumen und fein gemacht zum Geburtstag einer Neunzigjährigen: Seit 1913 wird in „Clärchen’s Ballhaus“ bis in den Morgen hinein geschwooft

In den neuen Lokalen der Spandauer Vorstadt brummt Sonntagnacht nicht gerade das Leben – in den meisten herrscht gähnende Leere. Nur vor der verfallenen Fassade der Auguststraße 24 reißt an diesem Abend die Kette der Besucher nicht ab. Viele haben Blumen in der Hand, fein gemacht haben sich fast alle – wie es sich eben so gehört, wenn man einer Legende zum Geburtstag gratuliert. „Clärchen’s Ballhaus“ feiert seinen 90. Geburtstag. Eigentlich hieß es „Bühler’s Ballhaus“ – das eröffnete Fritz Bühler am 13. September 1913. Der Erste Weltkrieg machte seine Frau Clara, Kaltmamsell und Tochter eines Schäfers, zur Witwe, und die machte aus „Bühler’s“ dann „Clärchen’s Ballhaus“. Seit nunmehr 90 Jahren wird dort bis zum Morgengrauen geschwooft, daran konnte nicht mal die DDR etwas ändern.

Am Sonntag hat es damit zunächst Weile. Das Publikum zwischen 18 und weit über 80 orientiert sich erst. Guckt rechts und links, grüßt hier und da und strebt dann irgendwo im schummrigen Ballsaaldunkel zielstrebig zu seinem Tisch. Denn den hat hier jeder Stammgast. Genau unterm Musikpodium, dort wo es richtig schön laut wummert, sammelt sich langsam eine muntere Tischrunde von Damen zwischen 40 und über 50 – zeigt beste Laune, nackte Schultern und freizügige Dekolletés und bestellt Cola, Cognac und Wodka. Eine füllige Blonde in einem langen türkisfarbenen Abendkleid, dessen Mieder sie fast sprengt, stürzt quer über die noch leere Tanzfläche auf einen gerade angekommenen Herren im Sonntagsanzug zu und zerrt ihn glücklich zu ihrem Tisch – später präsentieren sich die beiden als meisterliche Dauertänzer. Die Luft ist rauchig – diesem Laster frönen fast alle. Ein lokaler TV-Moderator versucht Schwung in die Geburtstagsfête zu bringen und stellt „Wandi Schmidtke als einen Altvorderen von Clärchen’s Ballhaus“ vor. Die inzwischen schon sehr zahlreichen Stammgäste kennen scheinbar alle den kleinen Mann und klatschen ihm heftig Beifall.

„Das ist Evandro Schmidtke“, klärt Ballhaus-Besitzer Stefan Wolff Uneingeweihte über den alten Geschäftsführer seiner Mutter, der früheren Ballhaus-Chefin Elfriede Wolff, auf, die auch irgendwo im Getümmel steckt. „Ich habe mich unter Honecker geärgert, jetzt ärgere du dich unter Kohl“, hat die heute 72-Jährige 1990 zu ihrem Sohn Stefan gesagt und ihm das Ballhaus-Familiengeschäft in der dritten Generation übergeben. Mit Ralph Wolff schleppt die vierte Generation am Abend Bier; Mutter Monika sorgt an der Bar für volle Gläser. Die Preise sind christlich. „Millionär könn’se nich werden, aber vernünftig leben“, sagt Wolff, „und ich kann mich morgens im Spiegel angucken.“

Stimmung macht dann der erste Überraschungsgast Jürgen Walter. Er möchte seine Chansons eigentlich allen Deutschen widmen, nur kennt und liebt man ihn am meisten zwischen Ostsee und Thüringer Wald. Die Berliner Schwoof-Adresse hat er 1979 DDR-weit bekannt gemacht – mit seinem Lied „Tango in Clärchen’s Ballhaus“. Dafür bekommt er zum „90.“ jubelnden Beifall.

Ein paar Tanzrunden weiter auf dem nun überfüllten Parkett toppt Walter Plathe diesen Auftritt. Der Sohn der nahen Ackerstraße erinnert sich deftig-volkstümlich an seine Zeit im Kiez als frisch studierter Schauspieler – „wenn wir voll aus dem Bötzoweck rausflogen, bekamen wir bei Clärchen Asyl“. Seine Geburtstagsständchen entlieh Plathe bei Otto Reutter. „Nehm’sen Alten“ passte zum Publikum – aber dass „in 50 Jahren alles vorbei ist“, wollte an diesem Abend niemand auf „Clärchen’s Ballhaus“ beziehen.

Heidemarie Mazuhn

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