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Berlin: Stefan Felmy (Geb. 1970)

Gleich am Anfang schickte er einen Kletterer zum Kreuz.

Wenn Stefan Felmy am Morgen die letzten Meter zu seinem Arbeitsplatz zurücklegte, tat er es mit Bedacht. Er näherte sich jedes Mal aus einer anderen Richtung. Mal von Norden über die Bodebrücke, mal von Südwesten durch den Lustgarten, mal von Süden über den Schlossplatz. Von oben hätte er sich auch gerne mal genähert.

Zu Beginn seiner Tätigkeit erwies sich das vergoldete Kreuz auf der Domkuppel als marode. Ganz oben sind Gotteshäuser am empfindlichsten. Stefan Felmy hatte Roststücke auf dem Umgang unterhalb des Kreuzes gefunden, schickte einen Kletterer hoch, zog einen Statiker zu Rate und entschied: Gefahr im Verzug!

Als das neue Kreuz auf den Dom gehievt wurde, stand er, der Dombaumeister, zwischen Bischof und Regierendem Bürgermeister. Das alte Kreuz steht jetzt auf dem Friedhof der Domgemeinde an der Liesenstraße. Dort darf es weiterrosten, nicht weit entfernt von Stefan Felmys Grab.

Dombaumeister. Was für ein übermenschlicher Titel! Um eine Kathedrale zu vollenden, brauchte es im Mittelalter Generationen von Dombaumeistern. Um die Kathedralen zu erhalten, ist es heute nicht anders. Stefan Felmy übte einen Beruf aus, der Sinn im Überfluss stiftet. Eigentlich lief sein Leben samt den Leben seiner Ahnen zielstrebig auf diesen speziellen Arbeitsplatz zu. Davon ahnte er natürlich nichts.

Stefan Felmy stammte aus einer Familie von Pfarrern, einer praktizierte in Honolulu auf Hawai. Sein Vater war Professor für orthodoxe Theologie. Stefan und sein älterer Bruder kamen wie selbstverständlich zu Vaters Exkursionen nach Serbien mit, besichtigten Klöster, prägten sich Stilelemente ein und lernten, die Zeichen der Vergangenheit zu deuten.

Seine eigenen Zeichen sind schwerer zu verstehen. Ein alter, geschundener Mann in Embryonalstellung, die Augen mit dunklen Ringen untersetzt, der Schädel unbehaart. Der gesamte Körper ist aus tausenden gekreuzten Bleistiftstrichen erschaffen. Eine Figur, deren Anblick schaudern lässt. Die Zeichnung stammt aus einer frühen künstlerischen Phase, als Stefan noch schwankte, welchen Weg er einschlagen sollte. Er entschied sich für die Architektur.

Seine Mutter wollte, dass er Querflöte lernt, aber Stefan hasste dieses Instrument. Um des Familienfriedens willen nahm er Übungsstücke auf Kassette auf und spielte sie ab. So hatte er Zeit zum Lesen oder Spielen.

Das Architekturstudium gefiel ihm gut, solange das Künstlerische im Vordergrund stand. Haustechnik lag ihm weniger. Etwas mulmig wurde ihm bei der Vorstellung, künftig Einfamilienhäuser für finanziell klamme und ästhetisch irregeleitete Bauherren zu projektieren. Der Jobmarkt für Architekten war schlecht, als er sich im Jahr 2000 erstmals auf die Suche machte. Er rief in einem Büro an, wo er zuvor schon mal als Praktikant gearbeitet hatte. Wenig später hatte er einen Job.

Die Bewerbung zum Dombaumeister war etwas aufwändiger, führte aber genauso unabänderlich zum Erfolg. Die Verbindung von alter Baukunst, theologischem Überbau und moderner Denkmalpflege verkörperte Stefan Felmy tadellos.

Er war ein kräftiger Kerl, dem Leibesübungen um des Übens willen aber nutzlos erschienen. Radfahren, da machte er eine Ausnahme, immerhin kommt man damit spürbar vorwärts und kann den Kindern die Welt zeigen.

Im Dom kommt man nur per pedes weiter. Noch nach drei Jahren hatte Stefan nicht jeden Gang, jede Nische oder Kammer erforscht. Dabei machte er sich täglich auf den Weg durchs Gemäuer, besprach mit dem Haushandwerker Leitungswege und versteckte Schächte. Kam er zurück ins Büro, hinterließ er auf der Auslegeware deutliche Profilabdrücke.

Die Felmys sind der historischen Spurensicherung verpflichtet, auch nach innen, zum Erhalt des Familiengedächtnisses. Das schreibt zum Beispiel vor, dass der Braten an hohen Festtagen Männersache ist. Weihnachten gab es Wild, Silvester musste es Gänsebraten sein. Nach längeren Recherchen präsentierte Stefan das Rezept „Gänsebraten Dombaumeisterart“ und schritt erfolgreich zur Tat.

Nach einem Urlaub an der Ostsee, wie immer mit der Familie, kam Stefan erholt und beseelt an seinen Wirkungsort zurück. Er saß auf dem Sofa, gesund und fröhlich – und sank zur Seite, von einer Sekunde auf die nächste, tot. Wie um alles in der Welt das geschehen konnte, weiß nur einer. Seine Frau wollte nicht, dass die Ärzte sich da einmischen. Thomas Loy

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