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Berlin: Stille Nacht, neu erwacht

Jedes Jahr tritt eine ganze Gemeinde aus der evangelischen Landeskirche aus. Dirk Kummer entmutigt das nicht: Er ist eingetreten.

Cordula Machoni ist Pfarrerin, sitzt an ihrem Schreibtisch in der Klosterstraße in Mitte und fährt ihren Computer hoch. Eine Tabelle blinkt auf und zeigt die Misere der Kirche: Allein im Kirchenkreis Stadtmitte kehren jedes Jahr etwa 1800 Menschen der Kirche den Rücken. Der Kirchenkreis Stadtmitte ist zwar mit 80 000 Mitgliedern der größte der evangelischen Landeskirche, beruhigen kann das trotzdem nicht. Denn auf die etwas über eine Million Mitglieder der Landeskirche hochgerechnet heißt das: Jeden Monat verschwindet eine Pfarrgemeinde. „Damit können wir uns doch nicht abfinden“, sagt Cordula Machoni.

2011 sind insgesamt 9900 Protestanten aus der Landeskirche ausgetreten und 5000 Katholiken aus dem jetzt noch 396 000 Mitglieder zählenden Erzbistum Berlin. Tendenz: gleichbleibend.

Machoni und die Pfarrer der anderen 27 Gemeinden im Kirchenkreis Stadtmitte alarmieren diese Zahlen, und seit zwei Jahren bemühen sie sich sehr, die Ausgetretenen zurückzuholen. Sie schreiben ihnen Briefe, in denen sie den Austritt bedauern und sich für die gezahlte Kirchensteuer bedanken. Sie schicken ihnen Postkarten, auf deren geröteter Vorderseite „Beschämt ...“ steht und auf der Rückseite „... bin ich darüber, dass wir offensichtlich gescheitert sind bei dem Versuch, für Sie da zu sein“ – immer mit dem Hinweis, dass man sich über eine Rückmeldung freue. Immerhin zwölf Prozent schreiben tatsächlich zurück. Wer sich meldet, wird zu einem Treffen eingeladen.

Machoni will auch die Gründe für den Austritt wissen. „Meinen Glauben kann ich auch ohne Kirche leben“, schreibt eine Frau. Es sei nicht transparent, wohin die Kirchensteuer fließe, deshalb wolle sie lieber direkt an die Obdachlosenhilfe spenden. Einer anderen „liegt der Buddhismus näher“, ein Mann wusste gar nicht, dass er noch zur Kirche gehörte. Andere bemängeln, dass sich die Berliner Pfarrer nicht so kümmerten wie die in ihren Heimatdörfern, oder sie haben den Eindruck, die Kirche kümmere sich vor allem um die Institution, man wisse aber gar nicht, woran die Pfarrer selbst eigentlich glaubten.

„Den Schuh müssen wir uns anziehen“, sagt Machoni. „Wir brauchen andere Strukturen.“ Pfarrer müssten sich wieder auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren, auf die Seelsorge und die Vermittlung des Glaubens. Und nicht auch noch Geschäftsführer, Manager und Bauleiter sein. „Wir müssen deutlich machen, wofür wir Christen stehen und wodurch wir uns vom gesellschaftlichen Mainstream unterscheiden.“ Vielleicht sei es auch unter den Kirchendächern „zu bunt“ geworden, sagt Machoni, zu viel Qi-Gong-Meditation und zu wenig Abendmahl. Das spezifisch Christliche sei offenbar nicht mehr klar erkennbar.

Aber auch das zeigen die Antworten: Die Servicementalität der Berliner hat zugenommen. Eltern treten aus, weil ihr Kind keinen Platz im evangelischen Kindergarten bekommen hat, Paare treten aus, weil sie sowieso nur vorübergehend eingetreten waren, um für ihre Hochzeit die Aura einer Kirche nutzen zu können. Auch wenn noch kein Einziger zurückgekommen ist: Cordula Machoni lässt sich nicht entmutigen. Neben ihrem Computer hängt eine Karte mit einem Zitat von Vaclav Havel: „Hoffnung ist nicht Optimismus. Es ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.“

Eine Etage unter ihr telefoniert Pfarrerin Antje Zimmermann in diesen Wochen vor Weihnachten sehr viel. Sie organisiert die vier Eintrittsstellen der evangelischen Kirche im Berliner Dom, in St. Marien am Alexanderplatz, in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche und in Heilig-Kreuz in Kreuzberg, und betreut die Pfarrer, die dort ehrenamtlich arbeiten. Wenn jemand in die evangelische Kirche eintreten will, findet er im Internet als erstes Zimmermanns Nummer. Im November und Dezember, wenn es draußen früh dunkel wird und viele Menschen vielleicht mehr über sich und das Leben nachdenken als im Sommer, häufen sich die Nachfragen. „Ein richtiger Ansturm“, sagt Zimmermann. Offenbar entscheiden sich zu anderen Jahreszeiten nur wenige zu diesem Schritt. 2011 waren es lediglich 1300 in der gesamten Landeskirche – also 500 weniger, als allein in Stadtmitte austreten. Tendenz bei den Eintritten: abnehmend.

Angesichts der trüben Statistiken ist Dirk Kummer, 46, Filmemacher, ein wahrer Hoffnungsträger. Einen Kilometer von der Klosterstraße entfernt, treffen wir ihn in der Marienkirche am Alexanderplatz. Unter den hohen Gewölben der Kirche, die eine der ältesten in Berlin ist, erzählt Dirk Kummer von sich und wie sein Leben mit diesem Gotteshaus zusammenhängt. Aufgewachsen ist er in einem der Hochhäuser an der Leipziger Straße. Seine Eltern gehörten zum SED-Parteikader, der Vater habe in der Partei als besonders vertrauenswürdig gegolten, sagt der Sohn, und beim Zoll gearbeitet. Seine Mutter habe ihm manchmal vorgeschwärmt, wie schön das früher zu Weihnachten und Ostern in der Kirche gewesen sei, mit dem Osterfeuer und so, doch Kirche und Glaube waren in der DDR Tabuthemen und so auch für die Kummers.

Aber Sohn Dirk hatte auf anderem Wege von Phänomenen gehört, die ihn sehr faszinierten: Paradies, Hölle, Teufel, Kreuzigung. Ein Mädchen in seiner Klasse besuchte die „Christenlehre“, den Religionsunterricht in einer Kirchengemeinde, und erzählte ihm davon. „Das hat mich sehr beschäftigt“, sagt Kummer. Zu Weihnachten und Ostern schlich er sich in die Marienkirche am Alexanderplatz zu Gottesdiensten und um das „Weihnachtsoratorium“ anzuhören. Alles heimlich. „Wenn das die Eltern bemerkt hätten, hätte ich Ärger bekommen. Wenn mich jemand gesehen hätte, der die Eltern kannte, hätten die Eltern Ärger bekommen.“ 

Auf dem Gestell für die Kerzen im Vorraum der Kirche brennen bereits einige Dutzend Teelichte. Dirk Kummer zündet eine weitere Kerze an, faltet die Hände und schließt für einen Moment die Augen. Der Kinderglaube hat ihn getragen, auch als er älter wurde und das Leben manchmal sehr schwer war. Um Regie studieren zu können, musste er drei Jahre zur NVA. „Keine einfache Zeit“, sagt er, „aber ich hatte immer das Gefühl, Gott beschützt mich“, sagt er.

Nach dem Mauerfall ging er in den Westen, arbeitete in Baden-Württemberg und Bayern. Auch dort gab es Zeiten, in denen er manchmal nicht mehr weiter wusste, sich einsam fühlte oder panische Angst bekam, in dem neuen System nicht mithalten zu können. Er sei dann einfach in die Kirche gegangen und habe sehr lange gebetet und Gott von seinen Sorgen erzählt. Es half, sagt Dirk Kummer. Danach fühlte er sich nicht mehr ganz so allein. „Sonst hätte ich mein Leben nicht ertragen.“ Und doch scheute er sich, richtig einzutreten in die Kirche und sich taufen zu lassen. Freunde sagten: „Du kannst ja glauben, aber deswegen musst du doch nicht in die Kirche eintreten und denen auch noch Geld geben“. Doch die Gemeinschaft mit den anderen gehört für ihn zum Glauben dazu. 2010 stand er schon einmal kurz vor dem Eintritt, doch dann kamen die Missbrauchsskandale und schreckten ihn ab.

2011 trieb es Dirk Kummer wieder nach Berlin zurück. Heimweh. Sein gutes Verhältnis zu Gott brachte er mit. Und jetzt und hier war es so weit: Er wollte sich taufen lassen. Als er sich bei einem befreundeten Pfarrer erkundigte, wann die nächste Möglichkeit dazu wäre, erhielt er die Antwort: 29. Oktober, St. Marien. „Ich dachte: Kann nicht wahr sein“, sagt Kummer. Zufall? Bestimmung? Am 29. Oktober ist sein Geburtstag, und in St. Marien schließt sich der Kreis zur Kindheit. Über Facebook hatte seine Mitschülerin von damals von der Taufe erfahren und gratulierte ihm. Sie ist allerdings längst ausgetreten. Auch seine Eltern kamen zur Taufe. „Ich glaube, mein Vater hat mich verstanden.“ Vaters Weltbild ist zerbrochen, der Tod naht, sagt Kummer. Vor kurzem seien seine Eltern sogar zur 40-jährigen Feier ihrer Konfirmation gefahren.

Vor einem Jahr gestaltete Dirk Kummer mit seinem Freund sein erstes Weihnachtsfest. Sie wohnen in Potsdam, die Heilandskirche in Sacrow, direkt an der Havel, liegt bei ihnen um die Ecke. Dorthin werden sie am morgigen Heiligabend zum Gottesdienst gehen, vielleicht sogar zweimal, nachmittags und noch mal in die Christmette. Der Weihnachtsbaum zu Hause ist mit echten Kerzen geschmückt, unter dem Baum steht die Krippe, die der Freund aus Bayern mitgebracht hat. Im Ofen wird die Weihnachtsgans schmoren. „Wir mögen es ganz traditionell“, sagt Dirk Kummer. Und mit viel Zeit und Gelassenheit und der Gewissheit, mit der Kirche endlich einen Ort zu haben, wohin er Glück und Unglück im Leben tragen kann.

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