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Berlin: Streicheleinheiten für den Finanzsenator

Thilo Sarrazin beeindruckte den CDU-nahen Wirtschaftsrat bei einem Vortragsabend mit seinen Zahlenspielen – obwohl es den Zuhörern schwer fiel, ihm zu folgen

Finanzsenator Thilo Sarrazin hat etwas sehr, sehr Seltenes: eine „Zahlenehre“. So nennt er es selbst. Wenn andere Senatoren andere Zahlen haben als er, ist diese Zahlenehre verletzt und erst dann vollends wiederhergestellt, wenn Thilo Sarrazin bewiesen hat, dass seine Zahlen wahrhaftiger sind als die der anderen. Wenn es eine Zahlenehre gibt, kann man vermuten, dass dahinter eine viel größere Ehre steckt, eine, die archaischer konstruiert ist und viel weiter verbreitet, eine Art Mannesehre. Ist die jetzt verletzt?

Will hier keiner wissen. Die Tempodrom-Affäre, die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Sarrazin wegen eines Millionen-Sponsorings durch die landeseigene Investitionsbank Berlin lässt den CDU-nahen „Wirtschaftsrat Deutschland“ kalt. Den Sozi Strieder, nein, den würde man wohl nicht mehr einladen. Aber den Sozi Sarrazin jederzeit. Ein SPD-Mann, dem die Zahlen näher stehen als seine Partei, genießt hier vollsten Respekt. Thilo Sarrazin kommt alleine und etwas zu spät. Mitgebracht hat er seinen berühmten Folienordner. Gleich als Erstes, noch vor der Begrüßung, fingert er die „Schuldenstandsentwicklung“ heraus und legt sie auf den Overheadprojektor. Diese Folie wird den Vortrag eröffnen und mit ihrer betörenden Deutlichkeit die Zuschauer in ihren Bann ziehen, wie ein Auftakt-Ass beim Tennis. Sarrazin bugsiert den Projektor eigenhändig in den korrekten Winkel zur Leinwand, legt den Folienordner auf die Ablage und setzt sich. Jetzt darf er begrüßt werden.

Der Vortragssaal der hessischen Landesvertretung ist ganz auf den sarrazinschen Sparkurs abgestimmt. Es gibt keine Blumen, keine Süßigkeiten, keine Werbekugelschreiber. Der Vorstandstisch ist in eine weiße ungebügelte Tischdecke verpackt. Darauf stehen schwarze Mikrofonelemente und Wasserflaschen. Es gibt keine Farbe in diesem Arrangement. Farben gibt es nur auf den Folien. Dort können sie sich nützlich machen.

Vor zwei Jahren war Sarrazin schon mal beim CDU-nahen Wirtschaftsrat. Seitdem, sagt er, hätten sich die Folien nicht verändert. So wenig wie ihre Botschaft. „Das ist wie bei einer Predigt. Man muss nur etwas variieren, damit es nicht langweilig wird.“ Das mit dem Variieren klappt dann doch nicht so gut. Mit jeder Folie mehren sich die Stoßseufzer. Einem älteren Herrn klappen die Augendeckel zu. Einige sinken auf ihren Stühlen zusammen. Selbst Claus-Peter Martens (CDU), der als Gastgeber am Vorstandstisch sitzt, verfällt gelegentlich in eine gefährliche Körperstarre. Seine Augen verlieren sich im Weiß der Tischdecke. Kurz vor der Schneeblindheit springt jedesmal sein inneres Notstromaggregat an.

Allein Sarrazin können Kurven und Ziffern nicht ermatten. Sein Handschatten zieht wie ein schweres Gewitter über die Säulendiagramme der Haushaltsdefizite. Inzwischen sind wir bei den „Mehreinnahmen und -ausgaben gegenüber Länderdurchschnitt“. Auf der Folie trennen sich eine blaue und eine rote Linie voneinander, bilden nördliches und südliches Seeufer. Zwischendrin versinken die Milliarden. Den dramaturgischen Klimax erreicht der Folienvortrag beim Stichwort „Schuldenfalle“. Dabei stehen die blauen Defizitsäulen auf einem anwachsenden Sandfundament, den Zinsen. Während die Säulen langsam schrumpfen, bleibt der Sandhaufen stabil. Irgendwann klettern die Defizitsäulen sogar über die Nulllinie und wachsen zu kleinen Überschussschwellen. Aber was ist mit dem Sandhaufen los? Der frisst sich immer tiefer nach unten durch. Scheinbar paradox, aber leider wahr.

Beim Thema Studiengebühren zitiert Sarrazin genüsslich die „Rührgeschichten“ einer Berliner Zeitung, die betroffene Studenten zu Wort kommen ließ. „Einer sagte, er könne nun nicht mehr beim Asta mitmachen.“ Höhnisches Gelächter flackert auf. „Frechheit“, zischelt einer. Spätestens jetzt ist die Verbrüderung zwischen dem Sozi-Senator Gnadenlos und den christdemokratischen Unternehmern vollzogen.

Gerne erzählt Sarrazin auch, wie er die Hauptstadt-CDU dazu brachte, gegen seinen Haushalt vor das Landesverfassungsgericht zu ziehen. Alles Taktik, um seine eigene Partei auf Sparlinie zu trimmen. „Hat aber nicht viel gebracht“, räumt er ein. Von der Klage vorm Bundesverfassungsgericht verspricht sich Sarrazin mehr. Wenn finanzielle Hilfe vom Bund komme, dann nur in Verbindung mit „harten Auflagen“. „Dann fängt das Sparen erst richtig an.“

Am Ende erschallt großer Applaus aus den Reihen der Kaufleute und Banker. Wegen der Bankgesellschaft haben sie ein paar Fragen, warum nicht mehr privatisiert werde, wollen sie wissen, was denn nun mit der Anschlussförderung im sozialen Wohnungsbau sei. Sarrazins Zahlen, die er nun aus dem Kopf aufsagt, behalten immer die Oberhand. Und das Tempodrom? Will keiner wissen. Das T-Wort ist tabu. Die paar Millionen sind ja auch Peanuts. Erst später, vertaulich, lässt sich der Finanzsenator ein wenig aus der Reserve locken. Nur so viel: Die eingangs aufgeworfene Frage nach verletzter Ehre kann mit Ja beantwortet werden.

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