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Hach... So schön ist's in Berlin nur ganz, ganz oben.

© Istock

Streit im Himmel über Berlin: Die Dächer gehören uns allen!

Früher konnten wir über der Stadt ganze Blocks ablaufen. Dann waren immer mehr Dachterrassen im Weg. Nun will ein begüterter Nachbar uns nicht mal mehr grillen lassen. Ein Kommentar.

Neulich in Prenzlauer Berg: Eine Freundin feiert ihren Geburtstag. Nicht zum ersten Mal versammeln sich ihre Gäste in einem der letzten unsanierten Altbauten in der Lychener Straße, nicht zum ersten Mal klettern sie durch den leerstehenden Dachboden aufs Flachdach des Hauses. Da stehen sie dann, ein Haufen mitteljunger Menschen aus dem kreativen Durchschnitts- bis Niedriglohnsektor: Künstler, Fotografen, Schauspieler, Journalisten. Blick bis zum Horizont, lückenlos blauer Himmel, Sonne, Flaschenbier, Grillduft, leise Musik – viel besser kann ein Samstagabend in dieser Stadt nicht anlaufen.

Irgendwann, keine halbe Stunde ist vergangen, fragt einer, wann denn die schicke Privatterrasse auf dem Nebendach gebaut wurde, die war doch letztes Jahr noch nicht … ? Nein, bestätigt das Geburtstagskind, ist neu. Ein paar Gäste gucken neugierig hinüber – und sehen just in diesem Moment zwei Polizisten zwischen den Gartenmöbeln auftauchen.

Diskutieren zwecklos. Grill aus, einpacken, Rückzug.

Ein Kondom! Gebraucht! Auf der Terrasse!

Warum der Terrassenbesitzer die Polizei gerufen hat? Keiner kann es sich zusammenreimen. Erst als die meisten Gäste schon das Dach verlassen haben, taucht der Nachbar schließlich auf, ein Mann, der kaum älter ist als wir. Er habe „die Schnauze voll“, erklärt er – ständig laufe ihm irgendwer über die Terrasse, nachts höre er die Schritte im Schlafzimmer, sogar ein gebrauchtes Kondom habe er schon zwischen seinen Gartenmöbeln gefunden. Wir versichern ihm, dass keiner von uns seine Terrasse betreten, geschweige denn beflecken will. Kann ja jeder sagen, erwidert der Nachbar – er wisse genau, dass die Übeltäter aus unserer Dachluke kommen. Etwa ab diesem Punkt wird das Gespräch beiderseits hässlich – das Geburtstagskind weist wütend die Unterstellungen zurück, was den Nachbarn nur in seiner Überzeugung bestärkt, es mit einer Bande schamloser Terrassenmissbraucher zu tun zu haben. Am Ende mahnen die Polizisten zum Aufbruch.

Die Party verlagert sich in die Wohnung des Geburtstagskinds, wo es für den Rest der Nacht nur noch ein Gesprächsthema gibt. Alle haben das Gefühl, soeben das abrupte Ende einer langen Berliner Dachtradition erlebt zu haben. Was waren das noch für Zeiten, als wir, zehn Jahre muss es her sein, zum ersten Mal durch die Luke in der Lychener Straße kletterten – und feststellten, dass man oben um den kompletten Block laufen konnte! Erst als uns ein paar Jahre später der Besitzer eines frisch ausgebauten Dachgeschosses anschnauzte, wir sollten von seinem „Privatgrundstück“ verschwinden, verkniffen wir uns die Spaziergänge. Weit käme man heute ohnehin nicht mehr, weil in den letzten Jahren auf mehr als einem Dach Privatterrassen wie die des Nachbarn gebaut wurden. Macht nichts, dachten wir, uns bleibt ja „unser“ Dach. Bis der Nachbar beschloss, dort niemanden mehr zu dulden.

Grenzlegale Dachromantik findet man in jedem Berlin-Reiseführer

Klar, legal war das alles nie. Gemacht wurde es trotzdem. Ständig sind wir bei unseren Dachgängen anderen Freiluftfeierern begegnet, es herrschte reger Verkehr im Himmel über Berlin. Soll es damit jetzt vorbei sein? Es wäre das Ende eines städtischen Mythos. Abendsonne, feiernde junge Leute, grenzlegale Dachromantik: Wer kennt diese Sehnsuchtsbilder nicht? Man begegnet ihnen in Bierwerbungen, Immobilienprospekten, in jedem Berlin-Reiseführer. Nicht ausgeschlossen, dass ein Foto dieser Art auch das Maklerportfolio zierte, mit dem die Terrassenwohnung des Nachbarn beworben wurde.

Dank der geballten Recherchekompetenz der auf dem Dach versammelten Journalisten fanden wir an jenem Abend schnell heraus, wem wir unsere Vertreibung aus dem Paradies zu verdanken hatten. Es handelt sich um einen Internet-Unternehmer, den Chef eines Shopping-Start-ups, das, wie es auf der Firmenwebsite szenetypisch heißt, „in einem Hinterzimmer im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg“ gegründet wurde. Über diesem Klischeespruch prangt – ironisch, aber wahr – ein breites Foto der Berliner Skyline.

Lieber Nachbar, der du deinen eigenen Mythos mit dem Himmel über Berlin bewirbst: Versperr uns nicht die Aussicht!

Dieser Text erschien zunächst als Rant in unserer gedruckten Samstagsbeilage Mehr Berlin.

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