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Berlin: Sybille Reichert (Geb. 1962)

Sie war Nänzi, die Herrscherin ihrer selbst

Sie hatte sich schlafen gelegt. Die Kopfschmerzen plagten sie wieder, alle vier bis sechs Wochen kam ihr Hirn in die Schädelpresse. Dietmar war bei ihr, Dietmar war immer bei ihr, wenn er gebraucht wurde. Sie waren ein Paar, aber nur weil er kapiert hatte, dass sie niemandem gehörte, niemals, nur sich und der Kunst, für immer.

„Du musst unbedingt kommen, mein Kopf tut weh …“ Sie legte sich ins Bett, wälzte sich hin und her, um zehn schlief sie ein, er horchte auf ihren ruhigen Atem, legte sich zu ihr, nach Mitternacht. Ihre Hand packte ihn. „Au, drück nicht so doll!“ Er schlief ein, schreckte auf, drei Uhr morgens, Freitag früh. Es war eiskalt im Zimmer. Er wusste sofort: Sie war tot. Er drückte aufs Herz, versucht Mund- zu-Mund-Beatmung, es war sinnlos, sie war ja tot. Tot. Tot.

Sie waren ein gutes Paar gewesen. Dietmar und Nänzi. Ganz anders als Nancy Spungen und Sid Vicious, Nancy wurde erstochen in der Badewanne gefunden, Sid starb an einer Überdosis. Punkerliebe.

Beim Johnny-Cash-Konzert 1995 hatten sie sich näher kennengelernt, Dietmar und Nänzi, vom Sehen kannten sie sich schon. Sie war Studentin an der Hochschule der Künste und arbeitete nebenbei bei der Post als Aushilfskraft in der Künstlerschicht. Da trafen sich Musiker, Schriftsteller, Maler, und eben Dietmar und Nänzi: „Ach herrje, die schon wieder!“

Nänzi interessierte sich weniger für die Arbeit, mehr für die Post an sich, Postkarten lesen, was ja nicht verboten war, die Leute angucken, Pakete raten, was da so drin ist, an wen das wohl geht.

Nänzi war immer schon neugierig gewesen. Deswegen hielt sie es auch nicht aus im Taubertal, auf dem Bauernhof der Eltern, wo es jede Menge Arbeit gab für sie und die drei Brüder, aber wenig Zukunft. Dort wäre sie ewig die Sybille geblieben. Das ließ sie alles hinter sich, als sie nach Karlsruhe floh, Punk wurde, und von da an nur noch Nänzi hieß. Sie zog weiter nach Nürnberg, traf ihre erste große Liebe, Ralf, und folgte ihm nach Berlin.

Das „Risiko“ in der Yorckstrasse war ihr Zuhause, bis Ralf sie im Stich ließ. Sie fand ihn mit der Spritze im Arm, tot. Von da an war Schluss mit den Drogen. Vielleicht ein Glas Wein in 20 Jahren, keine Kippen in der Wohnung, kein Fleisch im Kochtopf.

Aber sie blieb ein Punk. Sie war Nänzi, die Herrscherin ihrer selbst. Drei Mal hatte sie sich an der Kunsthochschule beworben, bis sie genommen wurde. Sie lief die Galerien ab, zeigte ihre Arbeiten, warb für ihre Skulpturen, fand Käufer. Drei, vier Sammler in Berlin, die Galerie Paranorm, das Frauenmuseum in Bonn, aber davon konnte sie nicht leben.

„Du brauchst doch Geld … Dann mach doch mal den Reißverschluss auf!“ Die Galeristen waren nicht prüde, wenn sie besoffen waren, aber sie ließen sich endlos bitten, wenn sie nüchtern wurden. Nänzi war ein Hingucker auf den Vernissagen, und den Applaus brauchte sie auch, nicht die gaffende Anmache. Wahrgenommen werden war ihr wichtig. Spiegel waren ihr wichtig. „Bin ich noch da?“

Sie lebte von Hartz IV, war akkurat in allen Abrechnungen. Einen Ordner hatte sie mit „Was ich noch zu bezahlen habe“ beschriftet. Keine Schulden. Auch wenn die Hoffnung auf den Durchbruch schwand. „Glaubst du, ich schaff das noch?“ – „Denk an die Luise Bourgeois“, sagte Dietmar dann immer, „die schaffte ihren Durchbruch mit 70!“

Nänzi hielt durch, sie modellierte ihre Träume, ihre Ängste in Gips und Ton, wenn sie es sich leisten konnte in Bronze. Dietmar war ihre Muse, er lag auf der Couch, wenn sie modellierte, und Claire Waldoff sang: „Warum liebt der Wladimir grade mir, grade mir? Weil et ihm so neu is, det ihm eene treu is …“

Sie schminkte sich, jeden Tag, besaß 50 Paar Schuhe, alle abgetreten, hatte noch zwölf Euro siebzig auf dem Konto, Mitte des Monats, und zwölf Cent in der Manteltasche. Aber in ihrem Atelier gingen die Götter und Göttinnen des Himmels und der Hölle ein und aus: das „Trash-Society-Görl“ und die „Venus Callypigos“, der weibliche „Warrior Nr. 2“ und der „Gentle Stork“, eine Mannsfigur, die irgendwie Dietmar ähnelt. Sie war die Puppenmutter all dieser Träume, sie hat ihnen Gestalt gegeben, und die Skulpturen danken es ihr, denn jede von ihnen bringt Nänzi wieder ins Leben zurück, wenn man sie nur richtig ansieht.

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