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Glaubenssache. 2009 mobilisierten die Kirchen mit Schülern und Eltern für den Volksentscheid Pro Reli, mit dem eine Wahlfreiheit zwischen dem neuen Unterrichtsfach Ethik und Religion erreicht werden sollte.

© Tim Brakemeier/dpa

Tegel-Volksentscheid: Auch beim Volksentscheid über Tempelhof ging es emotional zu

Berlin ist nicht die Schweiz, aber Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide haben auch hier eine bemerkenswerte Geschichte. Eine Zwischenbilanz.

Einfach ein Kreuz machen, oben oder unten, „Ja“ oder „Nein“ – so ist das seit jeher Brauch bei Volksabstimmungen in Berlin, und es gilt eben auch beim Votum über Tegel. Eine Abstimmung mit der Hand also, was gerade in dieser Stadt nicht immer so war, kannte man hier doch auch die „Abstimmung mit den Füßen“. Praktiziert wurde sie vor dem Bau der Mauer fast ausnahmslos im Ostteil der Stadt, war Flucht, nicht demokratischer Akt, als Willensbekundung aber ebenso eindeutig wie ein Kreuz im gewünschten Feld.

Die Geschichte der klassischen Volksentscheide in Berlin

Um die hiesige Geschichte der klassischen Volksentscheide, also der mit dem Kreuz, zu skizzieren, muss man nicht ganz so weit zurückgehen. Ansetzen könnte man etwa im Februar 1981 in West-Berlin. Am 15. Januar war der Regierende Bürgermeister Dietrich Stobbe zurückgetreten.

Mit einer Senatsumbildung hatte er einen Befreiungsschlag aus der Garski-Affäre versucht und war krachend gescheitert. Hans-Jochen Vogel sollte die Karre für die SPD aus dem Dreck ziehen, fand dazu aber keine Zeit mehr: Richard von Weizsäcker war die Möglichkeit des Volksbegehrens in der Verfassung aufgefallen. Binnen zweier Tage sammelte die CDU-Opposition 150 000 Unterschriften für Neuwahlen, eine Zahl, die sich sogar noch verdoppelte. Die SPD gab auf, ohne das Endergebnis abzuwarten, akzeptierte die vorzeitige Auflösung des Parlaments und rutschte in die Opposition.

Nicht immer war ein Volksentscheid nur aufs Stadtgebiet beschränkt

Nicht immer war solch eine Befragung des Wahlvolks thematisch nur aufs Stadtgebiet beschränkt. So hatte 1998 das Mittel der Volksinitiative Premiere, quasi ein „Volksentscheid light“, der selbst keine Entscheidung herbeiführt, sondern dazu gedacht ist, das Abgeordnetenhaus zur Erörterung bestimmter Anliegen und Themen zu zwingen. Es ging gegen den Transrapid, die geplante High-Tech-Verbindung Berlin-Hamburg.

Die Stimmen, um das Anliegen noch einmal vors Abgeordnetenhaus zu bringen, kamen zwar zusammen, aber dem Transrapid war ohnehin keine Zukunft beschieden: Zu teuer, wurde auf Bundesebene entschieden. So rauschen nun eben ICE-Züge zwischen Hanse- und Hauptstadt hin und her. Vergleichbare Initiativen gab es 2008 zu „Mehr Demokratie beim Wählen“ sowie 2011 zur größeren Unabhängigkeit der Schulen und zur Ausweitung des Nichtraucherschutzes.

Beim Volksentscheid zum Weiterbetrieb des Flughafen Tempelhofs ging es emotional zu

Die emotionale Beteiligung des Durchschnittsbürgers an diesen Befragungen war eher gering, anders 2008, als es um den Weiterbetrieb des Flughafens Tempelhof ging. Für viele Berliner ein Ort der Freiheit, untrennbar verbunden mit Rosinenbombern, Schokoladenfliegern und ähnlich erfreulichen Erinnerungen an die Luftbrücke.

Aber es waren eben vor allem die Erinnerungen der West-Berliner, deren Votum zu einem Gesamtergebnis des Volksentscheids mit 60,1 Prozent für Tempelhof führte, was freilich nichts daran änderte, dass vielen Ost-Berlinern die Zukunft des Flughafens ziemlich schnurz war: Die Beteiligung dort war zu gering, das Zustimmungsquorum von 25 Prozent der Abstimmungsberechtigten wurde verfehlt.

Der Entscheid war damit gescheitert, Tempelhof war als Flughafen Geschichte. Allerdings wäre der Senat auch bei einem Erfolg des Volksentscheids nicht verpflichtet gewesen, diesem zu folgen: Das Ja zu Tempelhof war nicht als Gesetz formuliert worden.

2008 wurde die Möglichkeit der Volksgesetzgebung in ihrer aktuellen Form erst festgeschrieben

Der 27. April 2008 war noch in anderer Hinsicht historisch, war es doch der erste Volksentscheid nach der wenige Wochen zuvor per Parlamentsbeschluss verfügten Erweiterung des Abstimmungsgesetzes, mit dem erst die Möglichkeiten der Volksgesetzgebung in ihrer aktuellen Form festgeschrieben wurden. Vorangegangen war dem ein Referendum 2006, in dem 84 Prozent der abstimmenden Bürger sich für die entsprechende Verfassungsänderung ausgesprochen hatten.

Tempelhof war sechs Jahre später erneut Gegenstand eines Volksentscheids

Tempelhof war sechs Jahre später erneut Gegenstand eines Volksentscheids, als es um die Frage ging, ob ein Teil der riesigen Fläche des Flughafens mit Wohnungen bebaut werden darf. Die Abstimmung wurde zur großen Schlappe für den Wowereit-Senat: 64,3 Prozent stimmten gegen eine Bebauung, und dies war nicht nur eine klare Willensbekundung, sondern wurde zugleich Gesetz.

Das Quorum war wiederholt die Stolperfalle, an der sich Wohl oder Weh eines in die Form des Volksentscheids gegossenen Bürgeranliegens schieden. Gleich zweimal kam es sozusagen als Tischvorlage daher: Die Initiative „Berliner Wassertisch“ wollte 2011 erreichen, alle Verträge im Bereich der Berliner Wasserwirtschaft veröffentlichungspflichtig zu machen.

Der rot-rote Senat sperrte sich, erst das Landesverfassungsgericht machte den Weg für die Abstimmung frei, bei der 27 Prozent der Wahlberechtigten mit Ja stimmten – ein klarer Erfolg. Anders verlief es für den „Berliner Energietisch“, der 2013 die Gründung eines ökologischen Stadtwerks und den Rückkauf der Stromnetze von Vattenfall betrieb, aber am Quorum scheiterte. Strom war eben doch keine Herzenssache der Berliner.

„Wie hast du’s mit der Religion?“

Und offensichtlich auch nicht die Sache mit Gott. „Wie hast du’s mit der Religion?“, wollte der Verein Pro Reli 2009 wissen und stellte die an Berliner Verhältnisse angepasste Gretchenfrage: Religion und Ethik als alternative Wahlpflichtfächer ab der ersten Klasse statt einer völligen Freiwilligkeit konfessionellen Unterrichts. Auch diesmal klafften die Ergebnisse in Ost und West weit auseinander, stimmte hier die Mehrheit gegen, dort für den Gesetzentwurf des von den Kirchen unterstützten Vereins. Doch die Mehrheit war dagegen, und das Quorum wurde ohnehin nicht erreicht.

In den vergangenen 20 Jahren gab es acht Volksinitiativen

Auch wenn Berlin von Schweizer Verhältnissen noch weit entfernt ist – die plebiszitäre Bilanz kann sich sehen lassen: In den vergangenen 20 Jahren gab es acht Volksinitiativen. Insgesamt 34 Mal wurde die Einleitung eines Volksbegehrens beantragt, die zwölf Mal tatsächlich in ein Volksbegehren und – mit dem am Sonntag zu treffenden Tegel-Votum – sechs Mal in einen Volksentscheid mündete. Es ging dabei um eher kuriose Anliegen wie die Rücknahme der Rechtschreibreform in Berlin, um verkehrspolitische Großprojekte wie die Förderung des Radfahrens oder um ein Nachtflugverbot für den BER, wenn er denn einmal eröffnet wird.

Fast immer waren Berliner Volksentscheide auf Berliner Territorium begrenzt

Die Anliegen scheiterten mal schon im Ansatz, mal nahmen sie die erste oder zweite Hürde, wurden abgelehnt oder nach einem Kompromiss mit dem Senat wurde auf eine Abstimmung verzichtet. Aber immer waren sie auf Berliner Territorium begrenzt, durften nur Berliner ihr Kreuzchen machen – bis auf eine Ausnahme: Das war am 5. Mai 1996, als bei zwei Volksentscheiden über die Fusion der Bundesländer Berlin und Brandenburg abgestimmt wurde. Es scheiterte an den Brandenburgern, von denen nur 24,27 Prozent der Abstimmenden für die Fusion waren. Wie immer das Ergebnis an diesem Sonntag ausfallen wird: Man darf darüber spekulieren, wie es aussähe, wenn auch die von der Tegel-Zukunft ebenfalls betroffenen Brandenburger ihr Kreuzchen hätten machen dürfen.

Berlin braucht Tegel“ ist nach Zählung des Vereins Mehr Demokratie e.V. Nummer 38 der Volksinitiativen und -begehren in Berlin und eines der wenigen Bürgeranliegen, die es bis zum Volksentscheid brachten. Erfolgreich im Finale waren erst zwei Entscheide: der für die Offenlegung der Wasserverträge und der gegen die Bebauung des Flughafens Tempelhof. Laut Innenbehörde sind zwei weitere Volksbegehren angelaufen: Während die Initiative für mehr Videoüberwachung die Unterschriftensammlung gestartet hat, kann das Begehren „Berlin werbefrei“ erst anlaufen, wenn das Land – in diesem Fall die Stadtentwicklungsverwaltung – eine amtliche Kostenschätzung vorgelegt hat. Träger des Anti-Werbe-Begehrens ist der Verein Changing Cities, der auch am Fahrrad-Volksentscheid beteiligt war.

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