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Berlin: Thea Amling (Geb. 1947)

Alles sollte sein wie früher und war doch ganz anders.

Das ist sie“, sagt Ingo Amling und nickt in Richtung des Fotos auf dem Wohnzimmertisch. Eine blonde Frau mit Sonnenbrille, um den roten Mund ein versonnenes Lächeln, ein Glas Chianti in der Hand. „Das ist Thea.“

Sie war das einzige Kind eines Stempelfabrik-Besitzers, geboren in Kreuzberg. Gut in der Schule, ohne viel büffeln zu müssen, so gut, dass sie in die Begabten-Klasse gesteckt wurde, Lieblingsfach: Latein.

Ingo ging in die gleiche Klasse wie Thea und verliebte sich in ihr selbstbewusstes, fröhliches Wesen. Ihre Leidenschaft für die tote Sprache konnte er zwar nicht nachvollziehen, aber vielleicht hatte das geheimnisvolle Etwas, das sie noch anziehender machte, genau damit zu tun. Klar, dass Thea an die Uni gehen und Latein studieren würde.

Gut aber auch, dass 1968 war, dass man Berlinerin war und die FU besuchte. Das schützte vor Langeweile, die Thea fürchtete wie nichts sonst. Für die Gurus, die sich für ihre Weltverbesserungstheorien von kajalumrahmten Augen anhimmeln ließen, hatte Thea wenig übrig. Eine lebendige „sozialistische Zelle im Kapitalismus" zu sein, gefiel ihr schon besser.

„Baarlam’s Haide“ hieß die Kreuzberger Kneipe, die Thea zusammen mit dreizehn Freunden eröffnete. Mit den Einnahmen finanzierten sie die beiden WGs, in denen sie lebten. Was übrig blieb, spendeten sie.

Die Kneipe wurde zum großen Wohnzimmer. Man lud zum Spanferkel-Essen, veranstaltete Konzerte und Lesungen und tischte das Hausgetränk auf, das so hitzig war wie die Diskussionen jener Zeit: Branntwein, auf dem eine mit Zucker und Nescafé bestreute Zitronenscheibe schwamm, die mit Rum übergossen und angezündet wurde.

Ingo, der sie am meisten von allen liebte, heiratete sie schließlich – eine konterrevolutionäre Aktion, die sie laut lachend im weißen Hosenanzug genoss. Und als sie dreißig war, kündigte sich das erste Kind an. Die Türen der Kneipe wurden geschlossen, die WG’s entflochten, aus wilden Ehen wurden zahme.

Thea begann mit ihrer Arbeit am Gymnasium, Lehrerin für Englisch und Latein. Wohl kaum eine Kollegin unternahm so viele Ausflüge wie sie. Sie zog mit den Jugendlichen ins Amerika-Haus, ins Museum, ins Theater. Hauptsache, irgendwie der 45-Minuten-Unterrichtseinheit entkommen. Wie sonst sollte man Begeisterung oder gar Liebe für das Fach wecken?

Daheim war Thea neben den Unterrichts-Vorbereitungen und der Erziehung der beiden Söhne hauptsächlich mit dem Ausschneiden von Veranstaltungstipps, Ausflugs- und Reiseempfehlungen beschäftigt. „Die Langeweile“, sagt Ingo Amling, „klopfte bei Thea an verschlossene Türen.“

Was gibt es langweiligeres als anderen beim nostalgischen Gerede von „früher“ zuzuhören? „Entweder“, sagte Thea eines Tages zu ihren Freunden, „ihr hört jetzt endlich auf, von Baarlam’s Haide zu schwärmen, oder wir machen’s einfach noch mal!“

Es gab große Diskussionen, drei sprangen ab, und dann zogen sie los, die sozialistischen Zellen von einst. „Wir werden uns davon einmal unsere Alten-WG finanzieren.“ Außerdem freuten sie sich darauf, bald wieder eine Heimat außerhalb der eigenen Couchecke zu haben.

In der Eylauer Strasse in Kreuzberg fanden sie ein leerstehendes Lokal. Sie veranstalteten Ausstellungen und Konzerte, boten das alte Hausgetränk wieder an, alles sollte sein wie früher und war doch ganz anders. Die Freunde wohnten längst nicht mehr in Kreuzberg, die Nachbarn gingen früh zu Bett, und Laufpublikum gab es in der kleinen Straße nicht. Nach drei Jahren gaben sie auf. „Und Spaß gemacht hat’s trotzdem", sagte Thea.

Den Hirntumor, den die Ärzte bei ihr feststellten, wollte das Paar lange Zeit nicht so recht ernst nehmen. Er passte nicht ins Bild ihres Lebens.

Thea, die Frau mit den braunen Augen, dem ansteckenden Lachen und der Sprachbegabung, verlor ihren Wortschatz und damit ihre Lebenskraft.

Ob sie vielleicht manchmal zu frech gewesen seien zu der niemals strengen Lehrerin? – fragten sich die Schüler in dem Kondolenzbuch. Von irgendwo, aus weiter Ferne, meinte Ingo beim Lesen dieser Zeilen Theas herzliches Lachen zu hören. Anne Jelena Schulte

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