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Berlin: Thorsten Oliver Huth (Geb. 1961)

Selbst die Nummern aus dem Telefonbuch hätte er schön singen können

Seinem Vater war oft kalt. „Mach mal das Fenster wieder zu“, sagte er zu Thorsten, „gefroren hab’ ich genug.“ Jahre hatte er in der Kriegsgefangenschaft verbracht, Nächte auf nackten Holzfußböden im grauen, fadenscheinigen Soldatenmantel.

Seine Mutter liebte den Tanz, die Lieder von Zarah Leander, die Farbe Rot. In funkelnder Bluse, mit Ketten und Armbändern und Haaren in tiefem Burgunderrot sagte sie: „Schmuck, den man nicht sieht, kann man auch weglassen.“

Gemeinsam zeigten die Eltern Thorsten und seinem jüngeren Bruder die Welt, die groß und schön und voller Möglichkeiten ist. Theater, Museen, fremde Städte, die Berge, das Meer. Nur einmal kam es vor, dass der Vater den Kopf über die Mutter schüttelte: „Wie kannst du dem Jungen einen roten Anzug anziehen?“

Der Junge, in seiner Kinder- und Jugendzeit, war kein Sonderling, doch hielt er sich eher fern von den Klassenkameraden. Der Mann, in seiner Studien- und Opernsängerzeit, ging auf die Leute zu, sprach sie an, hielt Freundschaften, jahrzehntelang.

Bernd gab eine Annonce auf, Thorsten antwortete. Sie telefonierten, fast eine Stunde. Sie verabredeten sich. „Woran werde ich dich erkennen?“, fragte Bernd. „Ich bin die grau-rote Kombination“, antwortete Thorsten.

Bernd sah ihn sofort, unter all den anderen Menschen: graue Hose, rotes Jackett. „Dezenz“, sagte Thorsten, „ist eine Schwäche.“

Ein „Theaterviech“ ist er gewesen, bezeichnete sich selbst als solches, hätte sogar die Namen und Nummern aus dem Telefonbuch schön singen können, mit seinem tiefen Bass. Auch wenn er in einem Möbelgeschäft stand, gerade dabei war, sich einen Kleiderschrank auszusuchen, das Telefon klingelte und es hieß, er müsse jetzt, auf der Stelle, nach Nordhausen fahren, ein Sänger sei ausgefallen, setzte er sich sofort in den Zug, schlug das Libretto von „Frau Luna“ auf, begann, sich den Text einzuprägen, kam in Nordhausen an und sang, als hätte er tagelang geprobt.

Wenn er Musik hörte, zu Hause, seine Lieblingsoper „Don Carlos“, Bach und Balladen (ein Wagnerianer war er nie), dann hörte er tatsächlich, lief nicht durch die Wohnung, wischte hier, kramte dort. Bereits vor dem Abitur hatte er Gesangsunterricht genommen, hatte danach an der Kunsthochschule in Berlin studiert, schon während des Studiums Rollen bekommen in „Orpheus in der Unterwelt“ oder „La Périchole“ am Schillertheater. Er gab den Komtur in „Don Giovanni“, den Banquo in „Macbeth“, war Ensemblemitglied der Kammeroper in Rheinsberg und der Lübecker Sommeroperette.

Den Liedgesang aber liebte er vor allem, Schuberts „Winterreise“. Mit „schauerlicher Hingabe“, schrieb ein Kritiker, trug er den Liederzyklus vor. Und als die Hähne krähten, / Da ward mein Auge wach; / Da war es kalt und finster, / Es schrieen die Raben vom Dach.

2006 erkrankte er an der Niere. Dreimal pro Woche musste er zur Dialyse, für eine Transplantation war sein Herz zu angegriffen. Er sang weiter, eine schwierige Partie aus den „Perlenfischern“ vor tausend Zuhörern; den reichen, raffgierigen Harpagon in einer Umarbeitung von Molières „Der Geizige“, ganz und gar präsent auf der Bühne, urkomisch, in seinem rosa Mantel, dem seidenen, weißen Rüschenhemd und den lächerlichen, enormen Locken auf dem Kopf. Er lebte mit seinen Eltern, nicht bei ihnen. Als sie krank wurden, pflegte er sie. Erst nach dem Tod seines Vaters zog er mit Bernd zusammen.

Das neue Jahr ist angebrochen. Thorsten steht auf, zieht sich an, öffnet die Wohnungstür, dreht sich noch einmal um, ruft: „Bis später.“

Es gibt kein Später. Während der Dialyse kommt es zu Komplikationen.

Thorsten liegt im Koma, 31 Tage lang. 31 Tage sitzt Bernd an seinem Bett.

Die kalten Winde bliesen / Mir grad’ in’s Angesicht, / Der Hut flog mir vom Kopfe, / Ich wendete mich nicht.

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