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Berlin: Tilly Delhaes (Geb. 1914)

Und wieder schrieben sie Briefe

Sie schrieben sich fast 2000 Briefe. 2000 Briefe in kaum zehn Jahren. Zuerst schrieben sie, weil sie jung und verliebt und fern voneinander waren. Sie blieb in Berlin, er musste nach Bremen, weil er nur dort eine Lehrstelle bekommen hatte. 25 Reichsmark erhielt er im Monat, zu wenig für eine Fahrkarte. Also schrieben sie Briefe; sie waren so sicher, sich gefunden zu haben, für ein ganzes Leben.

Nach seiner Lehre durften sie einige Jahre zusammen sein, bekamen einen Sohn und zwei Töchter, dann musste er wieder fort, in den Krieg dieses Mal. Und wieder schrieben sie Briefe, verliebt und sehnsüchtig, doch auch ängstlich jetzt. 1943, als Tilly und die Kinder aus Berlin Richtung Osten evakuiert wurden, standen die Häuser noch. Als sie im Mai 1945 zurückkehrten, war jedes fünfte zerstört. Unterwegs hatten sie ein paar Kartoffeln von einem offenen Güterwagen gestohlen, doch unerträglicher noch als der Hunger war der Durst. Sie waren gelaufen und gelaufen, hatten die Jüngste durch den märkischen Sand geschoben, in einem Kinderwagen, an dem rechts ein Nachttopf hing und links ein Gefäß fürs Wasser, das sie aus Dampfzügen entnahmen. Und als sie endlich in Berlin Lichtenberg angelangt waren und sahen, wie zerstört ihre Stadt war, mussten sie noch ein Stück weiter laufen, nach Lichterfelde, mit dieser einen Frage: Gibt es unsere Wohnung noch?

Es gab sie. Aber gab es ihn noch? Seit dem Frühjahr hatte sie keinen Brief mehr von ihm bekommen. Im Januar 1946 erfuhr sie, dass er tot war. Die Amerikaner suchten eine Frau, die die Wohnungen ihrer Krankenschwestern vor zudringlichen Männern bewachen sollte und fanden Tilly, die ein wenig Englisch sprach. Tilly aber war eigentlich Kindergärtnerin, und so sollte sie bald nicht mehr auf Krankenschwestern, sondern auf Kinder aufpassen.

Die deutschen Väter waren tot oder in Gefangenschaft, die deutschen Mütter beseitigten den Schutt und standen an nach ein paar Gramm Brot; niemand hatte Zeit und Kraft, sich über eine richtige Erziehung Gedanken zu machen. Eine Backpfeife hat noch keinem geschadet, das galt noch immer. Die Amerikaner aber, stellte Tilly fest, gaben ihren Kindern keine Backpfeifen. Sie waren großzügig, redeten mit ihnen. So pflegte auch Tilly mit ihren Kindern einen ganz undeutsch zugewandten Umgang. Sie brachte ihnen diesen seltsam eiförmigen Ball mit und hin und wieder die üppigen Reste amerikanischer Festessen. Sie schickte alle drei auf ein erstklassiges Gymnasium und ließ sie studieren.

Sie blieb der Mittelpunkt der Familie, die beständig wuchs. Erst kamen die sieben Enkel, dann die 13 Urenkel. In allen wichtigen Fragen bat man sie um Rat. Ihre Gesundheit war robust, bis sie 2005 in der Küche fiel und sich einen Fuß brach. Doch bereits 1988 hatte sie sich ein Seniorenheim ausgesucht, die wichtigen Entscheidungen traf sie stets selbst. Im Heim trat sie dem Beirat und der Küchenkommission bei, agierte nicht ohne Strenge, unterstützte Mitbewohner bei rechtlichen Fragen, arrangierte Tagesausflüge und kleine Reisen. Und an manchen Abenden las Tilly in den 2000 Briefen, alle sorgsam abgeheftet, in einem Ordner, den nun von Zeit zu Zeit ihre Kinder durchblättern.

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