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Berlin: Tobias hat die Leukämie besiegt

Vor zwei Jahren erkrankte der Junge – und Tausende wollten ihm mit einer Knochenmarkspende helfen

Die Friseurin hat einfach die Initiative ergriffen. Als ihr eine Kundin erzählte, dass deren zweijähriges Enkelkind Tobias plötzlich an Leukämie erkrankt war und auf eine Knochenmarkspende wartete, setzte sich die Friseurin mit Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern in Verbindung. Die riefen daraufhin zur Spende von Knochenmarkzellen für Tobias auf – der Tagesspiegel war auch dabei. Das war kurz vor Weihnachten im Jahr 2005 und es dauerte nicht lange, bis mehr als 3000 Berliner Schlange standen vor der Charité und anderen Krankenhäusern. Sie alle wollten sich für eine freiwillige Knochenmarkspende registrieren lassen. Jetzt ist Tobias wieder gesund. Aber geholfen wurde ihm auf andere Weise.

„Medienkampagnen für solche Spenden, insbesondere für Kinder, sind ein zweischneidiges Schwert“, sagt der oberärztliche Leiter für Kindertransplantationen an der Charité, Wolfram Ebell. Nur in seltenen Fällen werde direkt ein Spender über diese Aktionen gefunden. Statistisch ist die Chance einer genauen Übereinstimmung sehr gering, sie liegt bei eins zu zehn Millionen. Aber für die Kliniken haben die Aufrufe eine andere wichtige Funktion. Denn durchschnittlich lassen sich dadurch 3000 Menschen registrieren – und deren Knochenmarkspenden kommen unter Umständen für andere Patienten in Frage. „Soviel schaffen wir im normalen Betrieb nie“, sagt Ebell. „Höchstens 600 Freiwillige kommen von sich aus pro Jahr zur Charité, um sich in die Spenderdatei aufnehmen zu lassen.“

Wenn es – wie im Fall von Tobias – zu einem Medienaufruf kommt, sind es meist die Eltern, die die Initiative ergriffen haben. „Wir drängen da niemanden hinein“, sagt Ebell. Für den Vater von Tobias, den 38-jährigen Frank Jeromin, war damals klar: „Wir haben jeden Strohhalm ergriffen und waren froh, dass so viel Hilfsbereitschaft kam.“

Nachdem die Ärzte die Diagnose gestellt hatten, versuchten sie zunächst, den damals zweijährigen Jungen mit einer Chemotherapie zu behandeln. Kurz sah es auch so aus, als würde sie anschlagen. Dann kam der Rückfall, neue Leukämiezellen hatten sich gebildet und der kleine Tobias musste wieder in die Charité. „Die Zeit nach der Diagnose, dass unser Sohn Leukämie hat, war wie eine Achterbahnfahrt“, sagt Beate Schiwon, die Mutter. Die Ärzte in der Charité fingen nun an, nach einem geeigneten Spender zu suchen. „Die sagten uns ziemlich nüchtern, es stünde 50 zu 50, dass passendes Blutgewebe gefunden werde“, erzählt die 31-Jährige. Drei Monate mussten die Eltern auf die Nachricht warten, dass die Suche Erfolg hatte. „Tobias hat von dieser Aufregung gar nicht viel mitbekommen. Der war zum Teil so abgelenkt von all den Menschen im Krankenhaus, für ihn war das auch ein Abenteuer.“

Leukämie ist eine Krankheit, die in den meisten Fällen nur durch Zellspenden von anderen Menschen geheilt werden kann. Früher wurde vor allem Knochenmark von Familienmitgliedern transplantiert, um die Blutbildungsstörung zu beheben. Allerdings liegt die notwendige Übereinstimmung des Blutes bei den Eltern nur bei 50 Prozent, bei Geschwistern liegt die Chance auf eine Übereinstimmung bei 25 Prozent. Seit den achtziger Jahren wird daher ein weltweites Netz von Spendenregistern aufgebaut. In Deutschland sind allein zwei Millionen Spender im Knochenmarkspenderregister eingetragen. „Das reicht aus, um 80 bis 90 Prozent der Patienten zu heilen“, sagt Ebell. „Wir brauchen etwa 200 000 neue Spender pro Jahr, um wenigstens diesen Stand aufrecht zu erhalten, damit der Schwund durch Todesfälle oder zurückgezogene Spendenbereitschaften ausgeglichen werden kann.

Die für die Heilung notwendige Übereinstimmung des Blutgewebes von Menschen ist auch regional bedingt. In Europa sind die Strukturen relativ homogen, aber schon in der Türkei ist die HLA-Struktur wesentlich verschieden. Für Immigranten bedeutet dies, dass Spender vor allem aus den jeweiligen Heimatregionen stammen müssen. Bei Kindern mit Migrationshintergrund, die an Leukämie leiden, ist das Hauptproblem die zu geringe Spenderzahl. Von den etwa 45 leukämiekranken Kindern, die pro Jahr an der Charité behandelt werden, sind allein 25 Prozent türkischstämmig.

Für Tobias wurde das passende Blutgewebe schließlich über die Spenderdatei gefunden. Drei Monate dauerte es, bis nach weiteren Untersuchungen die Passgenauigkeit zweifelsfrei ermittelt war. „Das war wie ein neues Leben, als wir von der Spende hörten“, sagt die Mutter von Tobias. Jetzt mussten die Spenderzellen noch positiv von Tobias’ Körper aufgenommen werden. Nach den Strapazen der Chemotherapie, den Behandlungen über anderthalb Jahre und dem Warten auf die Spende, kamen noch weitere zehn Wochen Krankenhausaufenthalt dazu. Weitere zehn Wochen durften die Eltern nur mit Schutzkleidung in sein Zimmer, damit er sich nicht an fremden Viren ansteckt. Aber die Zellen schlugen an. Jetzt ist Tobias wieder ein gesundes Kind und geht regelmäßig in die Kinderkrippe anstatt in die Klinik.

Der Arzt Wolfram Ebell hofft, dass ähnliche Aufrufe auch in der türkischen Bevölkerung zu mehr Sensibilisierung für Leukämie führen. „Zwar ist die Chance bei kinderreichen Familien relativ hoch, dass ein Spender bei den Geschwistern zu finden ist, aber das reicht nicht“, sagt er. „Wir brauchen deutlich mehr Unterstützung durch potenzielle Spender, um erfolgreich heilen zu können.“

Obwohl die große Medienaktion Tobias direkt nichts gebracht hat, „waren wir trotzdem froh darüber, weil dadurch vielleicht andere Patienten geheilt werden können“, sagt auch die Mutter von Tobias. Es sei schön gewesen, dass so viele Menschen hätten helfen wollten. „Schade war es allerdings, dass die Bilder von unserem Sohn immer so traurig aussahen.“ Aber dieses Kapitel ist für den Kleinen jetzt abgeschlossen.

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