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Berlin: Toleranz setzt Wissen voraus

Ethikunterricht soll bekenntnisfrei sein – aber nicht wertfrei Von Thomas Flierl

Berlin ist seit langem eine Einwanderungsstadt, religiöse und kulturelle Vielfalt und eine aktive Toleranzpolitik haben der Stadt stets gut getan. Heute fundieren fast zwei Drittel der Berliner Bevölkerung ihr Weltverständnis nichtreligiös. Dass Religion in der Berliner Schule kein ordentliches Unterrichtsfach ist, gründet in der säkularen Tradition Berlins und im demokratischen Neubeginn nach 1945.

Für den schon seit Jahren in Berlin geführten Streit um einen so genannten Werteunterricht deutet sich nun eine Lösung an: ein für alle Schülerinnen und Schüler verbindliches, wissensgestütztes und bekenntnisfreies neues Unterrichtsfach, in dem die normativen Grundlagen pluraler Gesellschaften philosophisch, ethisch und kulturell reflektiert, kommuniziert und damit „vermittelt“ werden. Darüberhinaus sollte der Religions und Weltanschauungsunterricht als freiwilliger zusätzlicher Unterricht in Wahrnehmung seiner Kulturverantwortung auch weiterhin vom Staat finanziert werden.

Kirchen und konservative Bildungpolitik werden ihre alte Forderung, den freiwilligen „bekenntnisorientierten Religionsunterricht“ wieder zu einem regulären und staatlich verantworteten Fach zu machen, in Berlin allein wegen der Mehrheitsverhältnisse nicht durchsetzen können. Ihre These, dass „Wertevermittlung“ in der Schule nicht ohne „ordentlichen Religionsunterricht“ auskomme, leuchtet auch deshalb nicht ein, weil in einem Wahl-Pflicht-Bereich Ethik/Philosophie und Religion ein großer Teil der Schülerinnen und Schüler auch weiterhin ohne Religionsunterricht blieben. Wer „Wertevermittlung“ will, muss das Fach obligatorisch anbieten. Als solches kann es nur bekenntnisfrei sein.

Umgekehrt müssen die Anhänger des Status quo, die immer argumentierten, dass jegliche schulische Unternehmung immer schon „Wertevermittlung“ sei, einsehen, dass das Wissen um die kulturellen und religiösen Traditionen der heute so vielfältigen Lebensweisen nur sehr schwach entwickelt ist und die Vernetzung des bisherigen Fächerkanons nicht ausreicht. Toleranz setzt Wissen und Interesse aneinander voraus. „Parallelgesellschaften“ reproduzieren sich nicht in erster Linie politisch oder religiös, sondern kulturell.

Angesichts der nicht zu verdrängenden Probleme in einer multikulturell geprägten Metropole wie Berlin erscheint deshalb die Einrichtung eines neuen Unterrichtsfachs sinnvoll. Es sollte stark kulturwissenschaftlich geprägt sein, systematisch Querbezüge zu anderen Fächern herstellen sowie kommunikative Kompetenz im Umgang mit anderen Lebensweisen entwickeln. Interkulturelle Dialog- und Urteilsfähigkeit wird immer mehr zu einer Schlüsselkompetenz in der globalisierten Welt. Normativer Bezugspunkt wären das Grundgesetz und sein universelles Menschenrechtsverständnis. Weltanschaulich neutral, aber nicht wertfrei.

In unserer Reihe mit Positionen zum Thema Ethik- und Religionsunterricht gab es bislang Beiträge von Grünen-Fraktionschef Volker Ratzmann (5. März), Bildungssenator Klaus Böger, SPD (6. März), Wilfried Seiring, Direktor des Ausbildungsinstituts für Humanistische Lebenskunde an der TU, (24. März) und CDU-Fraktionschef Nicolas Zimmer (27. März).

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