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Berlin: Trauerkundgebungen: Nichts als Stille - Eindrücke von einer ungewöhnlichen Veranstaltung

Stille. Am Brandenburger Tor, einem der lärmigsten Punkte der Stadt, nichts als Stille, obwohl Zehntausende von Menschen beiseite stehen.

Stille. Am Brandenburger Tor, einem der lärmigsten Punkte der Stadt, nichts als Stille, obwohl Zehntausende von Menschen beiseite stehen. Die Journalisten auf der Presseplattform, sonst um keinen Spruch verlegen, konzentrieren sich ganz auf das Ereignis, spähen durch die Teleobjektive, halten ihre Blocks fest. Die große Bildwand zeigt tonlos die prominenten Gäste vor der Bühne, dann Bilder von der Kondolenzliste, flackernde Kerzen, Blumen. Selbst der Beifall, der US-Botschafter Coats und die Spitzen der deutschen Politik begrüßt, klingt gedämpft, so, als betrete ein unbekannter Nachwuchsdirigent das Konzertpodium. Dann, laut, Jocelyn B. Smith. Sie singt ein Gebet, verfällt in Sprechgesang, singt wieder, lauter. Beifall, wieder Stille. Johannes Rau packt sein Redemanuskript.

200 000 Besucher nennt die Polizei - das ist großzügig kalkuliert, aber darauf kommt es nicht an. Unter diesen Menschen sind viele Kinder, junge und alte Friedensbewegte, biedere Bürger, alle durcheinander. Viele halten brennende Kerzen in der Hand, viele haben Blumen mitgebracht. Das Bild ähnelt jenem, das im vergangenen Herbst auf der anderen Seite des Brandenburger Tors bei der großen Kundgebung gegen rechts zu sehen war, ist aber noch vielgestaltiger; Entsetzen und Zukunftsangst reichen nach den Terrorakten von Amerika anscheinend noch weiter in die Bevölkerung hinein.

"A clear No to terror" steht auf den Aufklebern, die quer durch die Menge verteilt werden - darüber sind sich alle einig. Doch auf einigen Plakaten kündigt sich schon an, dass es mit der Eintracht wohl bald vorbei sein wird: Viele formulieren mit Appellen wie "Verhandeln statt vergelten", "3. Weltkrieg - mit uns nicht" oder "No blind Vengeance" (keine blinde Rache) bereits die Kritik an Amerika, die vorweg nimmt, was viele demnächst drunten in Afghanistan erwarten. Zwei junge Frauen in weißen Gewändern haben aus Latten und Bettlaken eine große, fragile Friedenstaube gebaut, halten sie hoch über sich und singen "schalom alechem".

Bundespräsident Rau betritt das Podium, neben ihm stehen der US-Botschafter, dann protokollarisch akkurat aufgereiht, Bundestagspräsident, Kanzler und Außenminister, Ministerpräsidenten und Fraktionschefs, dazu der Regierende Bürgermeister. Andere, nicht weniger wichtige Gäste, beispielsweise Rudolf Scharping und andere Minister, haben in den ersten Reihen am Fuß der Bühne Platz genommen; man sieht Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Wolfgang Schäuble, Frank Steffel und Eberhard Diepgen demonstrieren Schulterschluss, Gregor Gysi sitzt neben Günter Rexrodt. Die Reden von Rau und Coats werden häufig von einhelligem Beifall unterbrochen, keine Misstöne mischen sich hinein.

Dann wieder Jocelyn B. Smith. Zusammen mit einem kleinen Gospelchor summt sie die Melodie von "Amazing Grace". Der Chor übernimmt, singt den Text, alle zusammen die dritte Strophe. Jocelyn Smith versucht, mit leisem, rhythmischem Klatschen die andächtige Stimmung ein wenig zu lockern, hält wieder inne. Viele wenden den Kopf zu Boden, haben Tränen in den Augen, die Veranstaltung ist zu Ende. Es beginnt, leise zu regnen.

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