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Berlin: Tumulte im Gericht: Freispruch für Rentner, der Hiphopper erstach

Richterin spricht von Tragödie und sinnlosem Tod – aber der Täter sei im Konflikt völlig überfordert gewesen

Als der Prozess zu Ende ist, können die dicht gedrängt sitzenden Zuschauer nicht mehr an sich halten. „Justizskandal, wo bleibt die Gerechtigkeit?“, ruft eine Frau. „Das darf nicht wahr sein! Der Mann hat einen Menschen umgebracht!“, entfährt es einem jungen Mann. Und der 57-jährige Thomas Grau aus Pankow sagt erregt in die Fernsehkameras: „Für mich ist das Urteil eine Aufforderung zur Selbstjustiz für ältere Menschen.“ Nach drei Verhandlungstagen verkündete die Richterin am Freitag im Namen des Volkes: Werner P., 76, angeklagt wegen Totschlags an dem 33-jährigen Attila Murat „Maxim“Aydin, ist freigesprochen.

„Ich habe seit langem in meiner beruflichen Praxis keine Tragödie mehr erlebt, die mich und auch die Kammer so betroffen hat – und keinen Tod, der so sinnlos war“, sagte die Richterin vor ihrer Urteilsbegründung. Aber P. sei im Konflikt völlig überfordert sowie in seiner Reaktionsfähigkeit eingeschränkt gewesen und habe daher keine andere Möglichkeit für sich gesehen, als sein Gartenmesser zu ziehen. P. dachte, er werde zusammengeschlagen, die vermeintliche Angriffssituation erlaubte die Verteidigung.

Dann ruft die Richterin noch einmal in Erinnerung, wie an diesem 13. Juni 2003 zwei Welten aufeinander prallen. Auf der einen Seite der Rentner, sportlich wirkend, von der Frau des Erstochenen zwar als „60-jähriger Möchtegern-Playboy“ beschrieben, aber zu 60 Prozent schwer behindert, auf einem Ohr taub. Ein Ex-DDR-Bürger, der sich „in der heutigen Zeit nicht mehr zu Hause fühlt“, ein „bislang unauffälliger und gesetzestreuer Bürger“. Und da ist der früh auf sich selbst gestellte Türke, äußerlich durch die Statur und seine Glatze Furcht einflößend – in der Hiphopszene aber als Frieden stiftendes und vermittelndes Idol geschätzt. „Hallo“, spricht Maxim den Mann auf belebter Straße von hinten an. Der reagiert nicht, „weil er mit großer Sicherheit nichts hört“, so die Richterin. Aydin interpretiert das als Ignoranz. Er geht dann, so sah das ein Augenzeuge, „barsch und mit aufgebrachtem Gesichtsausdruck auf P. zu“ und fragt, „was denn da gerade bei Plus gewesen sei“. Im Supermarkt hatte der Rentner Aydins Frau zuvor des Diebstahls bezichtigt, weil sie Waren in ihrer Tasche transportierte. „Ob das denn jetzt so üblich sei bei Plus“, hatte P. zu einer Verkäuferin gesagt.

Auch jetzt, im Zusammentreffen mit dem Mann der Kundin, der wohl die Ehre seiner Frau wiederherstellen wollte, sucht P. nicht das direkte Gespräch, sondern sagt zu Aydin: „Na, geh doch zu Plus und frag’ da nach.“ Dann, so die Richterin, steht P. „einen Moment erstarrt und sticht Aydin in den Oberkörper“. Er stirbt an seinem Geburtstag.

Peter Krull, Anwalt von Maxims Sohn, sagte nach dem Urteil, Maxim habe P. zweifelsohne angegriffen. Die „Zweck-Mittel-Relation“ sei aber nicht verhältnismäßig gewesen. Maxims Vater kündigte Revision an; P. habe auch gegen das Waffengesetz verstoßen. Ein deutscher Hiphopper befürchtet, „das Urteil reißt neue Gräben auf“. Ein alter Mann sagt aufgebracht, P. gelte als „rechthaberisch und westfeindlich“; er habe das Messer stets bei sich getragen. Ein junger Ausländer meint, er müsse nun Angst vor Rentnern haben. Andere brüllen drastische Schimpfwörter in die Gerichtsflure. Türen knallen. „Es ist erstaunlich, wie unbeherrscht Menschen sein können“, sagt die Richterin. Sie meint damit nicht den Rentner.

Annette Kögel

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