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Berlin: Über Kinosessel und empfindsame Kritikergesäße

Warum ist an dieser Stelle so selten von den Filmen der Berlinale die Rede? Weil es dazu bisher nicht viel zu sagen gab, zumindest, was den Wettbewerb betrifft.

Warum ist an dieser Stelle so selten von den Filmen der Berlinale die Rede? Weil es dazu bisher nicht viel zu sagen gab, zumindest, was den Wettbewerb betrifft. Wir haben unter anderem einen jugoslawischen Durchhaltefilm gesehen, einen russischen Kostümschinken, einen Hippiehorrorfilm und einen Psychothriller, der so ausgeklügelt war, dass kein Mensch sein Ende kapiert hat. Ein Film, in den man seine Freunde hineinschicken würde, war nicht darunter. Roman Herzog würde sagen: Ein Ruck muss durch unser Festival gehen! Womöglich fand dieser Ruck ja am Sonntag statt, als "Tropfen auf heiße Steine" lief, die Verfilmung eines frühen Fassbinder-Stückes durch den Franzosen François Ozon. Das war der erste Beitrag des Wettbewerbs, dem ziemlich viele Kritiker-Kollegen einen Preis gönnen würden. Wie immer bei Fassbinder geht es um Liebe und Macht. Die Liebe versetzt den Geliebten in eine unangreifbare Machtposition. Ozons Inszenierung bewegt sich genau auf der Kippe zwischen einer Fassbinder-Parodie und einer Hommage. Gute Filme sind meistens uneindeutig.

Über den Berlinale-Palast wird viel gemeckert. Es gibt viele Treppen, aber die Aufzüge dürfen nur Behinderte benutzen. Das Personal kontrolliert aber nicht den Ausweis. Es reicht, wenn man sagt: "Ich bin behindert." So mache jedenfalls ich das immer. Der häufigste Vorwurf aber betrifft die Sitze. Es sind Theatersitze. Das spürt man am Gesäß. Bitte schön, ich persönlich spüre nichts, aber ich bin kein hauptberuflicher Filmkritiker. Filmkritikergesäße sind in dieser Hinsicht hochsensibel. Setzen Sie einen erfahrenen Filmkritiker auf einen beliebigen Sessel - er kann Ihnen sofort sagen, was von diesem Sessel aus gesehen wurde. "Hm", sagt unser alter Filmkritiker, "dieser Sessel hier ist typischer italienischer Neorealismus. Der weiche Knautschsessel dort, das ist Mainstream. Hollywood. Das da" - der alte Filmkritiker rutscht genießerisch auf seinem Gesäß hin und her - "oho, das ist ganz was Feines. Japan, Kurosawa. Das Frühwerk. Da hinter der Sessel, bah, das ist banal. Fernsehserien." Deswegen stellen die Theatersessel im Berlinale-Palast für die Fachwelt eine ungeheuerliche Provokation dar. Und deswegen müssen die Sessel aus dem alten Arsenal-Kino eines Tages verbrannt werden. Sie sind so vollgesogen mit wertvollen Seherfahrungen, dass ein alter Filmkritiker, der sich auf ihnen niederläßt, von der Vielfalt der Sinneseindrücke, die sein Gesäß überschwemmen und von dort aus das Kleinhirn, sofort in den Wahnsinn getrieben wird.Aus der Serie 50 Verweht

Aus der Serie 50 Verweht

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