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Berlin: Ulla Müller (Geb. 1911)

Einen Gegner musste es geben, um einen Ball sollte es gehen

Ohne Gesellschaft war ihr das Leben nichts. „Ich muss raus, unter Menschen. Menschen, die sich verkriechen, sterben früh“, sagte Ulla Müller. Wer sie kannte, wusste: Das hatte sie definitiv nicht vor. 103 zu werden, war das sportlich gesetzte Ziel.

Am liebsten unterhielt sie sich unter der Dusche, da wo Sportler unter sich sind. „Gymnastik war wieder so langweilig“, beschwerte sie sich dann gut gelaunt bei ihrer Freundin, der Marathonläuferin, oder sie bestaunte die Freundin dafür, dass sie das durchhielt, stundenlang einfach nur geradeaus zu laufen. Ulla dagegen liebte den Wettkampfsport, möglichst schnell und dynamisch. Einen Gegner musste es geben, um einen Ball sollte es gehen. Noch mit 85 balgte sie sich beim Faustball mit den jungen Männern in der Tempelhofer Turngemeinde. Die jungen Männer waren alle über 70.

Seit 1929 war sie Mitglied der Turngemeinde, seit 1989, das war ihr 60. Mitgliedsjahr, musste sie keinen Beitrag mehr zahlen. Der Verein, sagte sie, hat sie gerettet, war ihr Heimat und Familie zugleich. Als sie mit zehn Jahren mit dem Sport begann, hatte die Mutter protestiert, weil sich Sporttreiben für Mädchen nicht schickte. Ulla ging trotzdem. Sie nahm auch noch ihre kleinen Brüder mit, auf die sie aufpassen musste, wenn Vater und Mutter arbeiteten, er als Schlosser, sie als Aushilfskraft im Konfektionsgeschäft. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, nahm sich ihr Vater das Leben. Ulla war da schon 22, ihr jüngster Bruder gerade zwei. Schon als junges Mädchen hatte sie kochen gelernt, um ihre Geschwister zu versorgen. Eine Verantwortung, die sie trug, ohne sich groß zu beschweren.

Sie hatte ja den Sport, wo auch sie weiter jung sein und spielen durfte. Mit 14 hatte sie bei den ersten Versuchen im Kugelstoßen die beachtliche Weite von 7,35 Metern geschafft und damit die amtierende Vereinsmeisterin Hannchen Grund übertroffen. Später stieß sie die Kugel 12,59 Meter weit. Doch ihre große Leidenschaft wurde das Handballspiel. Erst auf der Position Rechtsaußen, später als Torhüterin. Ganz zufällig landete sie dort, als das Tor einmal leer stand und jemand einspringen musste. Sie wurde in die Nationalmannschaft einberufen, nahm 1936 an den Olympischen Spielen teil. Im Jahr 1938 gewann ihre Mannschaft die Deutsche Meisterschaft.

Auch nach ihrer aktiven Wettkampfzeit blieb sie ihrem Verein verbunden. Probierte sich im Tennis, sorgte jahrzehntelang dafür, dass ihre Freunde beim Berlin-Marathon am Rathaus Schöneberg pünktlich und mit tosendem Applaus angefeuert wurden. Um das Vereinscasino der Sportgemeinde zu führen, absolvierte sie eine Ausbildung als Hauswirtschafterin im Pestalozzi-Fröbel-Haus. Doch die Gaststätte warf nicht genug ab, sie musste sie wieder aufgeben. Sie kochte bei den Russen, sie wirtschaftete bei den Amerikanern. In einem Kinderheim schmierte sie Stullen und kochte für 60 Kinder und zehn Erwachsene. Dann lernte sie, schon über 50, ihren Mann kennen. Natürlich im Sportverein.

Angst vor dem Älterwerden, vor Gebrechlichkeit und Tod kannte sie nicht. „Kein Zaudern und Zagen“, sagte sie zu ihrer Freundin unter der Dusche, die staunend über so viel Lebensmut sagt: „Manche Menschen sind nie jung. Ulla wurde nie alt.“

Ulla hielt wenig von einem übertrieben gesunden Lebensstil. Das Leben durfte keinesfalls zu kurz kommen. Zum Frühstück aß sie ihre Spezialschnitte, eine Scheibe Brot „mit Marmelade, Honig, Käse, Wurst und Fisch drauf“, und wenn es einen Anlass zum Feiern gab, ob Sieg oder Niederlage, dann sagte sie niemals Nein. Bei der Feier zu ihrem 100. Geburtstag erhob sie sich und sprach 30 Minuten frei vor der großen Runde über das turbulente Jahrhundert, das ihr Leben umfasste, vom Kaiserreich bis zum Mauerfall.

„Mit hundert laufen die Beine nicht mehr so schnell“, sagte sie. Na und? Kein Grund, sich nicht weiterhin einmal im Monat mit dem Taxi ins Casino am Columbiadamm fahren zu lassen.

Am Ende fehlten 86 Tage bis zum 103. Geburtstag. Die Einladungskarten zu ihrer Beerdigung hat sie selbst noch rechtzeitig vorbereitet: „Hallo Ihr Lieben“, waren ihre letzten Worte, „es war ein ereignisreiches und verrücktes Leben. Aber mir hat es gefallen!“

Kirsten Wenzel

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