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Trauer und Trubel. Deutschtürken schwenkten am Sonntagabend Fahnen auf dem Ku’damm, nachdem der Sieg des „Ja“-Lagers beim Referendums verkündet wurde. Auf der Veranstaltung der oppositionellen CHP im Theater 28 war die Stimmung gedrückt.

© P. Zinken, S. Willnow / dpa

Umstrittenes Referendum: Auch in Berlin sind die türkischstämmigen Bürger uneins

Zwischen Manipulationsvorwürfen, Trauer und dem Wunsch nach Ruhe: Am Tag nach dem Verfassungsreferendum gehen die Meinungen der Türken in der deutschen Hauptstadt auseinander.

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In Emin Y.s Welt spielen Feiertage keine besondere Rolle. Am Ostermontag steht der 34-Jährige in einem Dönerimbiss am Hermannplatz in Neukölln und hat alle Hände voll zu tun. Er schneidet eine rote Paprika nach der anderen in Streifen, schmeißt Tiefkühl-Pommes in brutzelndes Fett und dreht nebenbei den heißen Dönerspieß.

In Gedanken ist er aber 3000 Kilometer entfernt – nämlich in der Türkei. Das Land hat am vergangenen Sonntag in einem umstrittenen Referendum entschieden, das Präsidialsystem einzuführen und damit Präsident Erdogan mit enormen Exekutivrechten auszustatten. Das Referendum ging zugunsten des Präsidenten aus, weil die Befürworter der Verfassungsreform eine Mehrheit mit 51 Prozent erreichten. „Die Regierungspartei AKP hat zwar gesiegt, aber insgesamt doch verloren“, sagt Emin Y. „Die hatten mit viel mehr Ja-Stimmen gerechnet. Deshalb haben auch keine Massen an AKP-Fans auf der Straße gefeiert.“

Für den Kurden ist klar: Die Wahl wurde manipuliert und das Nein-Lager hätte gewonnen, wenn die Vorsitzenden der pro-kurdischen HDP nicht im Gefängnis sitzen würden. „Die haben charismatische Politiker, die zusätzliche Nein-Wähler mobilisiert hätten“, sagt er. Y. betont aber, dass das Ergebnis auch gezeigt habe, dass die Regierungspartei AKP in den großen Städten der Türkei verloren habe. Tatsächlich wurde in den Metropolen Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Diyarbakir mehrheitlich gegen die Reform gestimmt. Bei den Parlamentswahlen 2015 stimmten in Istanbul, Ankara und Antalya die meisten noch für die islamisch-konservative AKP.

Mehrheit der Wähler in Deutschland für Erdogan

Wenige Meter weiter sitzt ein 52-Jähriger in seinem Späti, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. Seine Eltern seien für das Präsidialsystem, er hingegen nicht. „Und ich kann mir auch nicht wirklich vorstellen, dass die meisten Deutschtürken für Erdogan gestimmt haben.“ In Deutschland leben fast drei Millionen Menschen, die aus der Türkei stammen. Davon dürfen 1,43 Millionen bei türkischen Wahlen abstimmen, die anderen haben nur einen deutschen Pass. Knapp 50 Prozent der Wahlberechtigten haben tatsächlich abgestimmt, für „Ja“ votierten dann letztlich rund 420 000 der Deutschtürken.

Den Kioskbesitzer beruhigt, dass in Berlin fast jeder Zweite gegen Erdogans Reform gestimmt hat. Im türkischen Generalkonsulat in der Heerstraße lagen Reform-Befürworter und Gegner beinahe gleich auf. Verglichen mit anderen Städten ist das der niedrigste Wert. Die meisten Ja-Stimmen wurden in Essen abgegeben (74,9 Prozent).

Auf der Veranstaltung der oppositionellen CHP im Theater 28 (Wedding) war die Stimmung gedrückt.
Auf der Veranstaltung der oppositionellen CHP im Theater 28 (Wedding) war die Stimmung gedrückt.

© P. Zinken, S. Willnow / dpa

Der Wahlkampf aus der Türkei spiegelte sich in Berlin: Viele Kurden, aber bei Weitem nicht alle, favorisierten beim Referendum ein „Nein“, dazu kamen die meisten Aleviten. Betrachtet man in Berlin die sunnitischen, nichtkurdischen Türken, dann ergibt sich ein Bekenntnis zum religiösen Autoritarismus Erdogans. Der islamkritische Autor Hamed Abdel-Samad schrieb dazu am Montag auf seiner Facebookseite, bundesweit stünden viele Deutschtürken leider mit Erdogan „geschlossen hinter dem Islamismus, dem Chauvinismus und der Todesstrafe“. Das sehen in Berlin viele säkulare, liberale Deutschtürken ähnlich.

Vorsichtiger bewerten die Aleviten das Ergebnis – die liberale, obrigkeitskritische Strömung im Islam wird von sunnitischen Muslimen, die oft Erdogans AKP nahestehen, abgelehnt. „Ja, es ist beängstigend, dass diejenigen, die in Deutschland aufgewachsen sind, für ein Autokratensystem gestimmt haben“, sagte Kadir Sahin, Generalsekretär der Alevitischen Gemeinde in Kreuzberg. „Aber letztlich sind sie in Berlin und in Deutschland in der Minderheit.“

Unter Deutsch-Türken bricht Streit aus

Ganz verdaut haben die Deutschtürken das Ergebnis des Volksentscheids noch nicht. Am U-Bahnhof Kottbusser Tor wird es am Montagmittag vor einem Backshop laut. Eine Frau und ein Mann streiten über die Wahl. Die Frau redet von einem unfairen Wahlkampf, der Mann von schlechten Verlierern. Als sie Beispiele unterdrückter Oppositioneller aufzählt, schreit der Mann. „Erzähl keine Lügen!“ „Ach, komm, geh weiter“, kontert sie.

Serdar B. verhält sich deutlich ruhiger. Der studierte Maschinenbauingenieur kam vor vier Jahren aus der Türkei nach Berlin – jetzt presst der 33-Jährige Orangen aus und verkauft den frischen Saft an einem Stand. „Ich finde es unangebracht, über zwei Lager zu sprechen – spätestens seit Sonntagabend darf es keine Teilung in ein Ja- und ein Nein-Lager mehr geben.“ B. will nicht sagen, ob er für oder gegen das Präsidialsystem gestimmt hat, aber ein AKP-Wähler sei er nicht. Der Wahlsieger heiße Erdogan, betont B., das müsse von allen akzeptiert werden.

In der Opposition sieht das anders aus: Die kemalistische, also säkulare und in der türkischen Politiklandschaft als Mitte-Links-Partei einzuordnende CHP will zweieinhalb Millionen abgegebene Stimmzettel nicht anerkennen. Denn die türkische Wahlbehörde hatte während des Referendums auch Umschläge mit Stimmzetteln akzeptiert, auf denen der nötige Behördenstempel fehlte. „Dann hätten die Wahlbeobachter der CHP vor den Wahlurnen eben besser aufpassen sollen“, sagt Serdar B. und klopft demonstrativ auf eine Kiste voller Orangen.

Der Frust über Erdogans Sieg war am Sonntagabend besonders im Theater 28 in Wedding zu spüren. Dort hatte sich Berlins Nein-Lager versammelt, um gemeinsam den Ausgang des Referendums zu verfolgen. Die zunächst noch gelöste Stimmung unter den rund 100 Menschen kippte, als sich der Sieg des „Ja“-Lagers abzeichnete. „Ich kippe gleich um“, sagte Sultan Ulusev, eine junge Frau. Wenig später: „Ich könnte heulen.“ Und das taten einige Deutschtürken dann auch.

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