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Berlin: Und alle sagen nur noch Ulle

Dank des deutschen Radsport-Helden gibt es im Sony-Zelt vor der Tour-de-France-Leinwand nur noch Fachleute

Von David Ensikat

Zeitfahren. Wen interessiert schon Zeitfahren? Da rasen sie los, jeder für sich, da strampeln sie, so gut sie können, da kommen sie an. Keine Taktik, keine geheimen Mannschaftsabsprachen, uninteressant.

Sagt Paul, der Kenner, Paul, der mit seiner Radsportmacke oft ein wenig allein war. Allein ist er während dieser Tour de France gar nicht mehr, plötzlich haben auch Leute eine Radsportmacke, die bislang gar nicht ahnten, dass eine Tour aus Etappen besteht. Sie sagen Ulle zu ihrem deutschen Helden, sie ziehen die Stirn in Falten und reden über den leicht unrunden Tritt, den sie bei Armstrong neulich festgestellt haben. Sie laufen in Fahrradläden und kaufen Bianchi- T-Shirts, weil Ulle Bianchi fährt. Sie gucken sich’s an, wie die Radler strampeln, schwitzen, stürzen, sie geben zu, dass das ja eigentlich langweilig ist, aber irgendwie ist es auch irre spannend. Wegen Ulle.

Und wegen Ulle kommen sie auch ins Sony-Center, wo sie wie damals die schönsten Fußball-WM-Spiele nun das Zeitfahren auf der großen Leinwand übertragen. Das Zeitfahren! Die langweilige Strampelei über die Crêpe-platte Strecke von Pornic nach Nantes! Nur weil sie sich hier vielleicht entscheidet, die Sache zwischen Ulle und Armstrong. Weil Ulle mit seinen dicken Schenkeln beim Zeitfahren so gute Chancen und nur eine gute Minute aufzuholen hat.

Natürlich gibt es immer noch Ignoranten, die touristisch zur Zeltdachdecke hochstaunen oder das Kino suchen, wo Wale im Wasser statt Radler im Regen gezeigt werden. Die vordere Hälfte des steinstählernen Sony-Rondells füllt sich aber immer mehr, je näher der Ullrich-Start rückt, dicht an dicht hocken die Jüngeren auf dem Sony-Fußboden. Etliche haben gar nicht damit gerechnet, dass sie hier den Radlern beim Radeln zugucken können und bleiben doch mit offenen Mündern vor der Leinwand stehen. Es sieht ja auch toll gefährlich aus, wenn sie da durch die Kurven rutschen über den nassen Asphalt, wenn sich auch mal einer hinpackt und wenn der Sportreporter durchs Konsum-Zelt schallt: Eben doch alles eine Frage des Materials.

Da nicken auch die Ahnungslosesten fachmännisch, sagen: Aquaplaning, ich sag nur Aquaplaning, und drücken ihrem deutschen Strampler um so mehr die Daumen, da der auf italienischen Reifen fährt.

Als um vier endlich Jan Ullrich an den Start rollt, starren alle unterm Zelt zur Leinwand, als sei dies schon die Entscheidung, ein Ulle-Johlen setzt ein, und jetzt gibt’s hier nur noch Fachleute: Neenee, Regen mag er gar nicht… Mann, tritt der lang… Scheiße, gestürzt – das war’s dann wohl.

Immer mal machen sich die Kenner Mut und klatschen rhythmisch. Zum Schluss, als ihr Ulle durchs Ziel hechelt, klatschen sie nur noch höflich. Armstrong, dem sie zu Beginn noch zugerufen haben: Lass Dir Zeit, Lance, bekommt jetzt auch seinen Applaus.

Paul, der Kenner, guckt sich das Zeitfahren nicht an, er guckt hinterher ins Internet. Dass sich dieser Tage so viele für sein Metier interessieren, sei schon okay. Aber eigentlich geht es denen ja gar nicht um den Radsport. Die kümmern sich nur um die Tour, sagt der Radsportnarr, und wird in ein paar Tagen wieder viel einsamer sein.

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