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Foto: dpa/Jens Wolf

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Berlin: Und Frieda auf Erden

Es war ein gemütliches Fest bei Familie Bremer – bis sie einen Ausflug zum Wannsee unternahm. Dort machte sie eine Begegnung, die sie auf die Existenz himmlischer Heerscharen hoffen ließ. Eine Erzählung über feiertägliche Aufstiegschancen / Von Horst Pillau.

Sie freuten sich auf den traditionellen Weihnachtsausflug am Morgen des ersten Feiertages. Er führte sie bei fast jedem Wetter von der alten Villenkolonie Wannsee, vorbei am Liebermann-Haus, bis zur Pfaueninsel. Und diesmal war das Wetter, wie man so sagt, geradezu traumhaft schön, keine Wolke am Himmel und eine fast frühlingshafte Temperatur: eine Vorahnung von schöneren Jahreszeiten, die dann oft ausblieben. Aber Weihnachten war doch auch schön.

Hanna Bremer hatte intensive Jugenderinnerungen an Wannsee und natürlich an den Wannsee. Sie war so oft wie möglich bei ihrer sehr geliebten Großmutter gewesen, in der großen alten Villa, wenige Meter vom Seglerclub entfernt, mit Blick hinüber zum Strandbad. Hier aalten sich nicht Tausende, hier hatte sie ihre eigene Badestelle, den alten Bootssteg, unter dem es unverwechselbar gluckste. Im Gegensatz zur Charlottenburger Wohnung im vierten Stock und vor allem ohne ihre Eltern verhieß ihr jeder Aufenthalt draußen am großen See Freiheit, Natur und Abenteuer.

Hannas Sohn Justus kannte die Geschichte von Großmutters schwarzer Katze auswendig, aber er wollte sie zu Weihnachten immer wieder hören. Justus litt unter den Schmerzen anderer, und die Geschichte ließ ihn nicht los. Denn Großmutters Kater Nero hatte sich an einem Zaun mit einer Krone aus Stacheldraht den Bauch aufgerissen und schleppte sich mühsam bis zum Haus. Die Großmutter, eine resolute Frau, war sofort hinüber zum Haus des berühmten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch gelaufen und hatte ihn gebeten, schnell herüberzukommen. Es liege ein Notfall vor. Der Arzt kam mit und sah sich das verletzte Tier prüfend an. Dann nickte er. Sauerbruch operierte zwanzig Minuten ohne Assistenzärzte und OP-Schwestern mit sehr provisorischem chirurgischem Besteck, gab sorgfältige Anweisungen für Neros weitere Behandlung und kehrte zu seinem Frühstückstisch zurück. Nero wurde gesund und lebte noch acht Jahre lang, acht Jahre, das musste Hanna ihrem Sohn immer wieder bestätigen.

Der Heilige Abend war schön und still verlaufen, ohne TV, CDs, DVDs oder sonstige Abkürzungen, Technik war an diesem Abend tabu, der Siebenjährige hatte sich festgelesen, er verschlang lieber Bücher.

Martin Bremer musste die Haustür aufschließen, dabei war es nach neun Uhr, an Feiertagen wurde in Berlin lang geschlafen. Sie fanden ihren nahen Parkplatz, fuhren los und bogen dann erwartungsvoll in den Kaiserdamm ein. Leider kam da ein Sportwagen, der wohl Vorfahrt gehabt hatte und den sie noch hätten abwarten sollen. Der Fahrer bremste betont scharf hinter ihnen, gab dann Gas und setzte sich neben sie. Er drohte mit der Faust und dann mit einem einzelnen Finger, er schrie: „Idiot! Gib lieber deinen Führerschein ab, wenn Du nicht fahren kannst! Idiot!“, gab nochmals Gas und schwenkte bedenklich nahe vor ihnen ein, das war eine Strafaktion, bevor er mit geschätzten neunzig davonraste.

Oh du fröhliche.

Das Kind schwieg bedrückt, Justus mochte es nicht, wenn der Vater kritisiert wurde und auch noch zu Weihnachten.

Die Wannseebrücke und die Straße Am Großen Wannsee erreichten sie schnell, noch waren kaum Ausflügler unterwegs.

Auch Martin Bremer hatte seine Jugenderinnerung. Er war spätnachmittags mit einem Klassenkameraden zum Baden an den Wannsee gefahren. Sie beschlossen, den See zu durchschwimmen. Aber auf halber Strecke bekam Martin einen Wadenkrampf und erreichte das andere Ufer nur mit Mühe und unter Schmerzen. Sie trauten sich nicht, zurückzuschwimmen und mussten um den Wannsee herumlaufen, in Badehosen über die Wannseebrücke, er humpelnd, und es wurde dunkel. Als sie bei ihren Sachen ankamen, war die Polizei schon dabei, Kleidung und Räder zu sichern und seiner Mutter telefonisch über das Revier mitzuteilen, dass er vermutlich ertrunken sei.

Sie suchten, wie gewohnt, den Friedhof auf, erzählten Hannas Großmutter, die Justus gar nicht mehr kennengelernt hatte, am prunkvollen Familiengrab von Heiligabend und den Geschenken und machten sich dann auf den Weg hinunter zur Pfaueninsel. Ein Ehepaar mit einem riesigen schwarzen Hund kam ihnen entgegen. Dobermann? Dogge? Jedenfalls so was wie ein Elch ohne Geweih. Der Hund umkreiste sie, lief dann auf Justus zu und fiel ihn an, na ja, eigentlich ganz friedlich, er stellte sich nur auf und legte die Vorderpranken auf Justus Brust. Der Junge war dem Druck nicht gewachsen, fiel rückwärts zu Boden und begann zu weinen. Er war ängstlich. Er liebte Hunde, aber eher kleine.

Hanna und Martin liefen auf Justus zu und stellten ihn wieder auf die Beine. Hanna nahm ihn in den Arm und tröstete ihn. Sie hatte immer Angst um dieses einzige Kind. Sie würde keines mehr bekommen können. Martin Bremer rief den Spaziergängern zu: „Nehmen Sie Ihren Hund gefälligst an die Leine!“

Die Frau war sofort entrüstet: „Hier im Wald? Spinnen Sie? Er wollte nur spielen! Wenigstens im Wald wird sich ein Hund wohl frei bewegen dürfen! Der Bengel soll sich nicht so haben!“

„Irrtum. Auch hier herrscht Leinenzwang!“, sagte Herr Bremer. „Sie sollten gelegentlich den Hundeführerschein machen.“

Es schien, als wolle ihm die Frau an den Hals gehen. „Was verstehen Sie denn davon?“

Und Hanna, erbittert: „Können Sie den Hund nicht erziehen? Sie sehen doch, wie sich Justus fürchtet!“

„Fürchtet? Ein Junge? Deswegen?“, rief die Frau. „Gut, dass wir keine Kinder haben, sondern einen Hund! Der macht kein solches dämliches Gewese wegen einer Begrüßung!“

Der Mann, kleiner als die Frau, hob beschwichtigend die Hände: „Frieda, mein Engel!“

„Du halt‘ den Mund!“, schrie die Frau. Und zu Bremers: „Lächerlich! Hasso hat überhaupt nichts getan! Hoffentlich kriegen Sie bald Ihr Betreuungsgeld! Dafür haben Sie doch das Gör’ da gekriegt. Dann können Sie ohne Ihr Sensibelchen ausgehen!“

Justus weinte wieder.

„Frieda, mein Engel!“, bat der Mann.

„Halt dich da raus!“, donnerte seine Frau.

Vom Himmel hoch da komm ich her.

„Wissen Sie, was es heißt, so einen Hund vier Stockwerke hochzutragen, wenn er krank ist?“ Für eine Sekunde war sie ihm fast sympathisch.

„Frieda...“

„Halt den Mund!“

Herr Bremer betrachtete die beiden. Nach der neusten repräsentativen Erhebung misshandeln vierunddreißig Prozent der Männer ihre Frauen, das fand er hoch angesetzt, und einunddreißig Prozent der Frauen ihre Männer, das hielt er nun für glaubwürdig.

„Die ist aber reizend“, sagte Hanna. „Und auch noch zu Weihnachten.“

Herr Bremer lächelte aber. „Schon gut, Hanna. Das machen wir anders.“ Er zog sein Handy aus der Manteltasche, legte auf die Frau an und knipste.

Die Frau schoss nun auf ihn zu, ja, schoss war der richtige Ausdruck. „Was machen Sie da?“

„Ich fotografiere den Wald.“

„Den Wald? Blödsinn! Sie fotografieren mich!“

„Zugegeben. Ihr Gesicht lohnt das.“

„Geben Sie das Handy her!“

„Nee, das ist meins“, sagte Herr Bremer. Für Sie ist es technisch zu kompliziert. Und Sie würden sich im Augenblick nicht so sehr gefallen.“

„Her damit! Sonst...!“

„Frieda, mein Engel!“, mahnte der Mann.

„Halt dich da raus, Ernst!“

Ehret die Frauen, sie flechten und weben himmlische Rosen ins irdische Leben, dachte Martin Bremer. Und lächelnd: Ja doch, meine Hanna flicht und webt.

„Sie löschen das Foto! Aber sofort!“

„Na gut“, sagte Martin lächelnd. „Wenn Sie meinen…“ Er tippte auf dem Handy herum. „Ist gelöscht. Frohe Weihnachten!“

„Lügen Sie nicht! Zeigen Sie her! Nachher war das nur ein schmutziger Trick, Sie... –“

Martin Bremer hielt der Frau das Display vors scharfe Gesicht. Falke? Sperber? Geier?

„Hier… sehen Sie… das letzte Foto ist jetzt von gestern… Heiligabend. Ihr Foto gibt‘s nicht mehr.“

Die Frau betrachtete das Bild misstrauisch. „Hoffentlich. Und nun lassen Sie uns gefälligst in Ruhe. Komm, Ernst! Hasso, hierher!“

Mann und Hund folgten ihr.

Martin Bremer hatte eine Idee. Er zwinkerte Justus wieder zu. Dann rief er dem Paar hinterher: „Übrigens, das Foto ist wirklich gelöscht.“ Pause. „Aber vorher habe ich es nach Hause gesendet. An meinen Computer. Und heute Abend können Sie sich auf Facebook bewundern.“

„Was?“ Die Frau fuhr wieder herum. Wie sie ihn hasste: alle Achtung. „Dann kriegen Sie einen Prozess an den Hals, der sich gewaschen hat. Dreckskerl! Dann mache ich Sie fertig!“

„Schon gut“, sagte Herr Bremer. „Es war nur ein Scherz. Gesegnetes Fest!“

Die Frau holte tief Luft. „Werden Sie nicht auch noch frech! Komm, Ernst! Hasso!“ Das Paar mit Hund ging weiter Richtung Pfaueninsel.

Das Ehepaar Bremer blieb stehen und wollte weitergehen, als die drei sich entfernt hatten.

Aber Justus sagte flehentlich: „Ich will nach Hause!“

„Aber Justus“, sagte Hanna Bremer. „Wir nehmen einen anderen Weg. Oder gehen um den Schlachtensee. Nicht wahr, Martin?“

Justus blieb stehen. „Ich will nach Hause“, wiederholte er heftig. „Bitte, Mama! Ich will weiterlesen! Robinson!“

„Schon gut, Justus. Nun zittere mal nicht. Wir drehen ja um.“

Justus zögerte. Er deutete auf die Davongehenden: „Ist sie ein Engel?“

„Noch nicht“, sagte Herr Bremer. Es klang bedauernd.“

„Aber… Wenn sie tot ist?“ Das Kind fragte vorsichtig: „Kann sie noch einer werden?“

Sein Vater dachte nach: „Naja… Ich glaube… Die Chance hat jeder.“

HORST PILLAU, 80,

in Wien geborener Berliner, hat gerade sein neues Buch veröffentlicht („Wir lernen Ihnen deutsch!“, Bäßler-Verlag), in dem er sich heiter mit Sprachsünden beschäftigt. Für den Tagesspiegel schrieb er exklusiv.

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