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Berlin: Ursula Ritter (Geb. 1925)

"Hallo, ich bin zurück. Wollte nur mal guten Tag sagen."

Ein Wohn- und Pflegeheim in Alt-Mariendorf. Ein Zimmer, etwa 20 Quadratmeter. In dem Zimmer zwei Betten. In den Betten zwei Frauen. Die eine ist klein, dunkelhaarig, spricht kaum ein Wort Deutsch und starrt auf die Tür. Die andere ist grau gelockt, einige Jahre älter noch, spricht ausschließlich Deutsch und fixiert das Fenster. Die Tür öffnet sich, eine Schwester bringt Tee, bleibt einen Moment lachend zwischen den Betten stehen. „Na, Frau Ritter, Frau Erkhan, wieder besonders gesprächig heute?“ Frau Ritter und Frau Erkhan hüsteln kurz, wenden ihre Köpfe abermals ab. Die Tür öffnet sich ein zweites Mal, herein kommt Frau Ritters Tochter, reicht ihrer Mutter einen Strauß Tulpen, schenkt auch Frau Erkhan eine Blume. Es ist der 8. März, Frauentag. Ein drittes Mal geht die Tür auf, sechs Personen kommen herein, Frau Erkhans Mann und ihre Kinder. Sie staunen über die Blume, begrüßen herzlich Frau Ritters Tochter, legen Frau Ritter ein Tütchen türkische Datteln auf die Bettdecke.

Frau Ritter und Frau Erkhan sprechen jeden Tag etwas mehr miteinander, zeigen auf Gegenstände, gestikulieren, lassen die Kinder übersetzen, schauen gemeinsam aus dem Fenster, zur Tür.

Eines Tages nehmen die Kinder Frau Erkhan mit, sie möchte zu Hause sterben. Frau Ritter bleibt zurück, allein, vermisst ihre türkische Freundin mehr noch, als sie ahnte.

Sie liegt in ihrem Bett, aus dem Hals ragt diese lästige Kanüle, die das Atmen erleichtert, das Sprechen verhindert. Sie schreibt ihre Wünsche, ihre Gedanken in ein Buch, ihre Kinder, Günter, ihr Lebenspartner, müssen nicht mehr raten, was sie sagen möchte. Wie noch vor einem Jahr, als sie nur ihren Kopf bewegen konnte. Den Kopf, in dem alles klar und hell und geordnet ist, kein Anzeichen von Vergessen und Verschwinden. Die Stimme allein fehlt Ursula, auch die Kraft in der Hand. Die Worte sind da, finden aber nicht hinab auf das Papier. Die Kinder bringen eine Buchstabentafel wie aus Schultagen, als Ursula das Schreiben zum ersten Mal lernte. Sie tippt mit dem Finger auf das S, das T, das I, die Kinder reichen ihr einen Bleistift, unsicher liegt er in der Hand, sie hält ihn fester, nach und nach, schreibt ein kindlich krummes D, ein A; das N und K und E erinnern bereits an die Schrift einer Erwachsenen.

In das Zimmer kommt eine Neue. Ursula denkt an Frau Erkhan, schaut auf Frau Schülke, matt und fahl in ihrem Bett, stellt bunte Astern auf den Nachtschrank, hilft ihr, sich aufzusetzen. Auf Frau Schülkes Wangen schimmert ein vages Rosa. Das kräftiger wird in den folgenden Wochen: beim Stricken von Mützen, Schals und Pulswärmern mit den Damen von der Gruppe „Die flotte Nadel“, auf Spaziergängen durch den Herbstgarten. Ursula zeigt auf diese Blume, sagt den Namen jenes Krauts, fragt sich still, wie es wohl in ihrem eigenen Gärtchen aussehen mag, ist beruhigt, um die Beete und Obstbäume kümmert sich ja jetzt die Enkelin, muss lächeln, wenn sie an ihr altes Klapprad, auf dem sie so oft und froh von der Wohnung in Johannisthal zum Königsheideweg gefahren ist, denkt. Günter kommt fast täglich nach Alt-Mariendorf. Zu Liederabenden, Vorträgen, zum Sommerfest.

Im Heim soll man leben, nicht leiden. Genau das will Ursula. Auch im Alter. Sie hat doch immer weitergelebt. Nach dem zu frühen Tod von Konrad, dem Vater der drei Kinder. Nach dem Tod von Gustl, mit dem sie ein Jahr später zusammengezogen war. „Wenn ich sterbe, sollst du nicht ewig trauern“, hatte Konrad gesagt. Und Ursula war froh, dass Gustl bei ihr war, sie kannten sich schon lange, auch Gustl hatte seine Frau verloren. Geteilter Kummer, geteilte Erinnerungen. Gemeinsam bereisten sie die halbe Welt.

Der Winter geht zu Ende. Ein Jahr nun schon verbringt Ursula in Alt-Mariendorf. Sie ist beliebt, selbstständig. Das Sauerstoffgerät, an dem die Kanüle hängt, bedient sie oft allein, erklärt manchmal sogar den Azubis, wie man fachgerecht umschaltet und umstöpselt, genießt den Blick aus ihrem Zimmer, die anregenden Unterhaltungen mit den Schwestern, der Logopädin, den Physiotherapeuten, die abendlichen Halmaspiele im Gemeinschaftsraum. Und doch möchte Ursula jetzt nach Hause. Der Frühling beginnt. Die Kanüle ist überflüssig. Sie bereitet sich vor auf das Leben in der eigenen Wohnung. Will sich abmelden im Heim. Verabredet sich mit ihrer Tochter. Sie fahren nach Johannisthal. Ursula setzt sich auf das Sofa. Gießt eine trockene Pflanze. Streicht mit dem Finger den Staub von der Anrichte. Es ist still. Ihr fällt ein, sie könnte bei den Nachbarn klingeln. „Hallo, ich bin zurück. Wollte nur mal guten Tag sagen.“ Doch die alten ängstlichen Leute öffnen nicht. Ursula und die Tochter steigen wieder ins Auto. Schweigen. Dann: „Ach, so schön ist meine Wohnung doch nicht.“

Einen Tag darauf hat sie sich entschieden. Sie wird mit Günter in Alt-Mariendorf bleiben, sie werden zusammen in einem Zimmer wohnen. Menschen, Gespräche, immer offene Türen, Leben. Termin ist der 1. März. In Günters Wohnung stehen die gepackten Kisten und Koffer. Ursula bekommt eine Infektion. Günter packt die Kisten und Koffer wieder aus.

„Eine starke Persönlichkeit“, schreibt der Chefpfleger in die Trauerkarte, „eine mutige Frau“ die Logopädin, „mein Vorbild“ Frau Schülke. Ursulas Tochter wird sich demnächst mit der Tochter von Frau Erkhan treffen. Tatjana Wulfert

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