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Berlin: Ursula Scholle, geb. 1925

Zeit ihres Lebens behielt sie ihre Angst vor den Russen. Schweigsam, geheim.

Zeit ihres Lebens behielt sie ihre Angst vor den Russen. Schweigsam, geheim. Wenige wussten, was ihr in den letzten Kriegstagen widerfahren ist. In der Familie war das Thema tabu. Vergewaltigung. Selbst wenn sie jemandem davon mal erzählte, nahm sie das Wort nicht in den Mund. Sagte nur: "Du weißt schon."

In Westfalen, wohin es sie zu Kriegsende verschlug, fand sie, die Leute seien "richtige Sturköppe". Außer der Bäcker Karl. Der war charmant und attraktiv. Das war der Mann ihres Lebens, den heiratete sie. Seinen Argwohn gegen gebildete Frauen nahm sie nicht ernst. Sie war daran gewöhnt, wegen ihres Abiturs verspottet zu werden. Ihr älterer Bruder machte sich einen Spaß daraus, sie aufzuziehen, weil sie nicht kochen konnte. Sie wollte nicht kochen.

Weil die Studienplätze nach dem Krieg Männern vorbehalten waren, konnte sie nicht Ärztin werden. Sie wurde Krankenschwester. Und was immer sie Großes vorgehabt haben mochte, nach der Geburt ihres ersten Sohnes blieb sie zu Hause. Dann gebar sie einen zweiten Sohn, dann noch eine Tochter. Zehn Jahre lang arbeitete Ursula nicht außerhalb der eigenen vier Wände, doch eine bekennende Hausfrau war sie nie. Die Hausarbeit hielt sie für niederen Dienst.

Dann kam die Wende in ihrem Leben. Ehemann Karl feierte nicht nur die Feste, wie sie gerade fielen - er trank auch sonst zu viel. Den Freitagabend verbrachte er in der Eckkneipe, egal ob der Wochenlohn reichte. Ursula saß mit den Kindern zu Hause. Wenn er heimkam, gab es Streit. Also blieb er fort. Nächtelang. Das Haus, das Ursula von ihren Eltern geerbt hatte, belastete er mit Hypotheken, bis es zwangsversteigert wurde. Er war, was man einen "lieben Kerl" nennt - oder ein großes Kind. Ursula ließ sich nicht etwa scheiden, nein, so weit ging sie nicht. Aber sie beschloss, endlich wieder selbst arbeiten zu gehen, um unabhängiger zu sein. Um die Familie nicht zu belasten, arbeitete sie als Nachtschwester.

Als Babysitterin wurde ein Flüchtlingsmädchen engagiert. Der lebenslustige Karl schwängerte das junge Ding - und Ursula, erst bitter gekränkt, wurde bei der Versöhnung ebenfalls schwanger. Das Mädchen bekam ihr Kind, und zur selben Zeit kam Ursulas dritter Sohn zur Welt. Das Leben in dem kleinen westfälischen Ort wurde nun zum Spießrutenlauf. Schließlich verließ Ursula das Nest, in dem jeder hinter ihrem Rücken redete. Ihren Mann nahm sie mit.

Bis nach Berlin, wo sie 1971 einen letzten Anlauf unternahm, Medizin zu studieren. Mit vier Kindern und einem alkoholabhängigen Mann, der jede Arbeitsstelle nach kurzer Zeit wieder verlor. Der Anlauf scheiterte, Ursula musste wieder als Schwester im Krankenhaus arbeiten. Als sie in Rente ging, war sie immerhin Stationsschwester. Sie war unzufrieden mit dieser Berufsbiografie und träumte davon, dass wenigstens einer ihrer Söhne ... Aber die wollten lieber Geld verdienen, möglichst schnell. Immerhin: Die Tochter trat in Mutters Fußstapfen und wurde Krankenschwester. Dennoch blieb das Verhältnis zu ihr gespannt. Ursula, wie viele Frauen ihrer Generation, zog ihre Söhne vor. Die Frauen von heute fand Ursula zu anspruchsvoll, zu verwöhnt. Emanzipation bedeutete für sie, berufstätig zu sein und - innerlich frei - einen Mann zu lieben, egal wie er ist. Untreue? Alkohol? Für Ursula bedeutete ein Frauenleben nicht zuletzt Unterordnung unter die Regeln des Partners. Nur gelegentlich dachte sie: Ach, wenn ich als Junge geboren wäre.

Aufopferungsvoll pflegte sie ihren Mann, als er an Kiefernknochenkrebs erkrankte. Nachdem er gestorben war, fiel sie in eine endlos scheinende Depression. Der jüngste Sohn nahm sie bei sich auf. Doch das Zusammenleben mit der Schwiegertochter wollte nicht klappen. Grollend zog Ursula in ein Ein-Zimmer-Apartment in einer Seniorenwohnanlage, die an einer lauten Verkehrsstraße lag. Vor allem im Sommer war der Lärm der Laster kaum zu ertragen, und sie floh, wann immer sie konnte, auf ihren Stock gestützt an den Wannsee. Immer allein.

Begegnungszentren? Seniorentreffen? Stolz schüttelte sie ihren Kopf mit den zerzausten weißen Löckchen, die sie wie eine Pusteblume aussehen ließen. Alte Leute langweilten sie. Schlimm genug, dass sie in einem Haus mit ihnen lebte. Sie war eine einsame Frau, die sich heftig gegen Nähe wehrte. Vielleicht, um nicht zu sehen, wie nah ihr Schicksal dem anderer war. Den Anweisungen von Ärzten aber misstraute sie stets. Die Dosis der Pillen, die sie nach einem ersten Schlaganfall regelmäßig einnehmen musste, regulierte sie schon einmal selbst - um dann mit Blaulicht in die Notaufnahme gefahren zu werden.

Eines Abends, kurz vorm 76. Geburtstag, versagte nach einem epileptischen Anfall ihr Herz. Man fand Ursula Scholle bäuchlings vor ihrem Bett liegen, das Licht brannte, der Fernseher lief. Noch beim Sterben hat sie sich blaue Flecken geholt. Sie war eine überaus tapfere Frau, die kaum merkte, wie sehr die Tapferkeit sie erschöpfte.

Katharina Schäfer

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